Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
gute Lösung, solche Arbeiten kann er gut erledigen«, hatte Mojsch am Abend vor der Beerdigung seufzend gesagt. Aharon hatte sich nicht erkundigt, was er mit dem Wort »Lösung« gemeint hatte. Diese Bemerkung und der Anblick Jankeles und seines Lächelns ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, wie er Mojsch gestützt hatte, als der zur Ambulanz hinkte, um die Wunde an seiner Wade verbinden zu lassen. Die Wunde stammte von Jankeles Zähnen, er hatte Mojsch gebissen, als sie beide vom Bewässern der Felder zurückgekommen waren. Niemand wußte, warum Jankele über Mojsch hergefallen war. Aharon und Mojsch waren auf dem Heimweg gewesen, hatten Rohre verlegt, wenige Jahre vor Einführung der modernen Bewässerungsmethoden, die dann den romantischen nächtlichen Jeepfahrten zu den Feldern ein Ende ge macht hatten, und damit auch den letzten Momenten rau her, männlicher Selbstsicherheit. Als sie im Jeep zurückfuhren, blödelnd und lachend, war Jankele über Mojsch hergefallen und hatte seine Zähne in dessen Wade geschlagen. Er war plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht, wie aus der Erde gesprungen, und bis heute wußte Aharon nicht, ob der Junge auf den Baumwollfeldern eingeschlafen war oder ob er auf sie gelauert hatte.
Der Biß war tief und hatte das Fleisch zerrissen. Blut lief von Mojschs Bein, aber er sagte nach dem ersten schmerzvollen Aufschrei kein Wort. Bis heute konnte Aharon den Krampf in seinen Muskeln spüren, wenn er an den Kraftaufwand dachte, der nötig war, um Jankele von Mojschs nacktem Bein zu reißen und wegzustoßen. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie nie jemandem die Wahrheit erzählt, noch nicht einmal Riwa, der Krankenschwester, obwohl die Zahnspuren deutlich zu erkennen waren und sie immer wieder sagte: »Vielleicht war's ein Schakal, du brauchst eine Tetanusspritze.« Mojsch hatte sich gewehrt. »Nein, nein, ich sage dir doch, es ist vom Zaun, das sind keine Zähne, die Wunde stammt vom Stacheldraht.« Auch als sie ihm die Tetanusspritze gab, sprach er weiter über den Stacheldrahtzaun. Seither konnte Aharon Jankele mit seinem ewigen Lächeln nicht anschauen, ohne daß ihm ein Schauer über den Rücken lief.
Fanja verhielt sich, als sei alles in Ordnung. Nie gab sie zu, weder mit Worten noch mit Taten, daß Jankele nicht normal war. Nie erwähnte sie seinen Zustand, erst recht ließ sie keine genauere Untersuchung zu. Daß er vom Armeedienst befreit wurde, führte sie auf die Asthmaanfälle zurück, an denen er als Kind gelitten hatte. Seit jeher füllte sie im Speisesaal seinen Teller, indem sie die reifsten Toma ten und die frischesten Gurken aussuchte, und sie zwang ihn, viel Salat und Gemüse zu essen.
Auch Sacharja, sein Vater, vermied es, über Jankele zu sprechen, aber Sacharja sagte ohnehin nicht viel. Klein und demütig erledigte er seine Arbeit im Hühnerstall, zusam men mit Chantsche, und abends ging er neben Fanja und ihrer Schwester zum Speisesaal, und sogar seinem Gang war anzusehen, daß er am liebsten verschwinden würde, daß er nicht gesehen und nicht gehört werden wollte. Im Kindergarten, erinnerte sich Aharon, hatten die Kinder Jankele mit Samthandschuhen angefaßt, als wäre er krank oder behindert. Einmal, als er, Aharon, im Kinderzoo arbeitete und die Kindergartenkinder kamen, um ein neugeborenes Lamm zu betrachten, warf Jankele, der sich auf dem Gelände herumtrieb, trockenes Reisig in die Ecke, in der sich der große Hasenstall befand, und Rinat, beide Hände in die Seite gestemmt, schimpfte mit ihm und sagte genau wie Lotte, ihre Mutter: »Das ist nicht schön, so etwas tut man nicht.« Aharon erinnerte sich, daß er damals – er war ungefähr zwölf Jahre alt, Rinat vier – in sich hineingelacht hatte, weil er Lottes Tonfall erkannte, mit dem sie die Kinder ausschimpfte, wenn sie den Boden des Duschraums mit ihren Schuhen dreckig machten. Er erinnerte sich auch daran, wie Oded, Jocheweds Sohn, Rinat zugeflüstert hatte: »Du sollst freundlich mit ihm sprechen, sonst kannst du von Fanja was erleben!«
»Sie wird mir nichts tun«, antwortete Rinat selbstsicher. »Dafür sorgt Lotte schon.«
»Aber sie wird dich nachts erschrecken, wenn sie im Kinderhaus Wachdienst hat«, sagte Oded ängstlich. »Ich weiß, daß sie das öfter tut, und darum schlafe ich nicht mehr im Kinderhaus, wenn sie Dienst hat.«
»Das darfst du nicht«, sagte Rinat hochmütig.
»Doch, ich darf«, versicherte Oded. »Jochewed hat
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