Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
dasselbe.« Und bevor sie die Tür zuschlug, sagte sie noch: »Und du solltest dich schämen.« Damit hatte sie sich auf den alten Streit zwischen ihnen bezogen, der noch vor der Sache mit Juwik entbrannt war, an dem Abend, als er ihr von seinem Wunsch, den Kibbuz zu verlassen, erzählt hatte. Er hatte nie vergessen, was sie ihm damals alles vorgeworfen hatte, seinen Opportunismus und seine Abenteuerlust. Sie selbst hingegen sei frei, hatte sie argumentiert, wahrhaft frei, gerade weil sie sich nicht nach Abenteuern und oberflächlicher Freiheit sehne, weil nur das Leben im Kibbuz ihr die innere Freiheit schenken könne, die Sicherheit des Dazu gehörens. Er wußte noch, was er ihr damals geantwortet hatte: »Du redest wie eine Siebzigjährige, guck dich doch nur an.« Und sie hatte ihn angeschrien: »Das tue ich. Und du bist es, der nichts sieht!«
Jetzt ging sie vorn im Trauerzug, neben Chawale und Mojsch und dessen Schwester Schula, die mit ihrem Mann und ihren Kindern zu Srulkes Beerdigung aus Be'er Schewa gekommen war. Sie war immer die Tochter des Hauses gewesen, und bis heute hatte er nicht gewußt, wie sehr er sie beneidet hatte. Er war sich seines Neids nie bewußt geworden, obwohl er immer geahnt hatte, daß Mirjam Schula mehr liebte als ihn. Und bei Srulke bestand daran nicht der geringste Zweifel.
Aharon ging am Schluß des Zugs, weit weg von Mojsch, Chawale und Schula. Unterwegs konnte er hören, wie Fanja, die Schneiderin, laut mit sich selbst sprach. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber er kannte den Ton: mürrisch und grausam, hysterisch und an der Schwelle zum Ausbruch, ein Ton, als ob die Person, die so spricht, sich dringend von einer jahrelangen Bitterkeit befreien will und als ob es ihr egal ist, wenn sie alles um sie herum vergiftet. Worte, die nicht wiedergutzumachen sind und die nie vergessen werden können, wie Dworka später zu Fanja sagte. Aharon bemerkte das Glitzern in den Augen Brurias von der Wäscherei, die eine Sensation witterte, und er sah die erschrockenen Gesichter von Schmiel und Chantsche vom Hühnerstall. Alle blieben stehen, obwohl die meisten Teil nehmer den Friedhof noch nicht betreten hatten. Ein Sakrileg schien in der Luft zu liegen. Erst als sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten und fast am Grab standen, konnte Aharon die Worte verstehen: »Jetzt seid ihr wohl zufrieden, was?« rief Fanja. »Ihr habt ihn umgebracht mit euren Ideen, mit all dem schönen Reden über Lebensqualität und dem Schlafen bei der Familie und den Plänen für ein Altersheim.«
»Psst«, sagte jemand, und Fanja schrie: »Nein, ich werde meinen Mund nicht halten! Das Altersheim ist schuld, und das Schlafen bei der Familie, weil ihr einfach nicht ertragen könnt, daß alles so bleibt, wie es war.«
»Wo ist Guta?« fragte jemand, und ein anderer antwortete: »Sie ist nicht gekommen. Sie geht nicht zu Beerdigungen.« Schließlich trat Osnat zu Fanja und nahm sie am Arm. Aharon war verblüfft. Nie hatte er Fanja so lange Sätze sagen hören. Sonst hatte sie immer halbe Wörter vor sich hin gemurmelt, einzelne Silben. Und die mürrischen Geräu-
sche, die sie während der Sichot von sich gab, fanden bei den Chawerim keine besondere Beachtung. Sie redete nie schlecht über jemanden, genau genommen warf sie alle stereotypen Vorstellungen über eine Kibbuzschneiderei über den Haufen, dachte Aharon nun, am offenen Grab. Diese Schneiderei war nicht Ausgangspunkt von Tratsch und Klatsch. Die Frauen, die mit ihr arbeiteten, hatten eine Heidenangst vor ihr. Und ebenso wie sie nie etwas Schlechtes über ein Kibbuzmitglied sagte, kam auch nie etwas Lobendes über ihre Lippen. Fanja war eine begnadete Schneiderin. Im Kibbuz sprach man von ihren Zauberhänden. »Sie hat einen wunderbaren Schnitt«, hatte Aharon Chantsche einmal erklären hören.
Ein Bild fiel ihm ein: Schula und Osnat in der Tür, an einem Festabend des Kibbuz, und Mirjam, die erstaunt sagte: »Schaut nur, wie schön Fanja nähen kann, wie sie an jedes Detail denkt, wie sie die Vorteile des Stoffes nutzt, und was für eine originelle Idee, für eure Klasse rote Karos zu wählen. Ist das Kleid nicht wunderbar?«
Er erinnerte sich auch, daß Osnat, die Hände in den Taschen ihres Festkleides, gesagt hatte: »Sie hat nur zwei verschiedene Schnitte gemacht.«
»Na und? Hätte sie zwölf Modelle machen sollen?« hatte Mirjam gutmütig lachend erwidert. »Das ist ja gerade das Schöne, daß es ihr gelungen ist, mit nur zwei Modellen etwas
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