Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
stecken, deshalb ist er gestorben. Was glaubt ihr denn, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan? Wilde seid ihr, Barbaren!« Dann begann sie wieder zu murmeln.
Die Prozession kam voran, trotz der Leute, die sich um Fanja drängten und sie zu beruhigen suchten, erschrocken und zögernd, denn die blaue Nummer auf ihrem Arm hielt jeden davon ab, sie zu berühren. Alle hatten Angst vor Fanja und Guta, ihrer Schwester. Denn obwohl Guta offenbar weniger erschreckend war als Fanja, manchmal sogar lachte oder eine Geschichte erzählte, fürchtete man sich auch vor ihr. Auch Aharon hatte sich als Kind vor ihnen gefürchtet, und immer, wenn er die blau tätowierte Num mer sah, beschlich ihn das Gefühl, sie dürfen alles, sie dürfen alles.
Beide waren sie ein Vorbild für die Arbeitsmoral im Kibbuz. Niemand zweifelte je an, daß sie hervorragende Arbeitskräfte waren. Einmal, als Aharon in der zwölften Klasse war und sich freiwillig zur Pfirsichernte gemeldet hatte, arbeitete er neben Guta. Sie hielt keine Sekunde inne, ihre Körbe füllten sich mit schwindelerregender Schnelligkeit, sie arbeitete wie eine Besessene. Es war die zweite Ernte im Jahr, und an den Zweigen der hohen Bäume hingen rosafarbene Früchte. Sie hatten in aller Morgenfrühe mit der Arbeit angefangen, bevor es heiß wurde, und als sie fertig waren, gingen sie zum Speisesaal, um zu frühstücken. Er konnte die Augen nicht von Guta wenden. Die Art, wie sie aß, ihren vollgehäuften Teller bis auf den letzten Krümel leerte, langsam und gründlich, in sich versunken und mit derselben Konzentration und Hingabe, die sie während des Pflückens gezeigt hatte, erschreckte ihn.
»Was wollt ihr denn, nach allem, was sie erlebt haben«, sagte Mirjam immer, wenn sich jemand darüber be schwerte, daß Guta ihn bei der Arbeit im Kuhstall erbarmungslos angetrieben und ihn ständig beschimpft hatte. Gutas Kühe waren im ganzen Negev berühmt. In den Satiren, die Juppi zu allen möglichen Festlichkeiten schrieb, machte er sich lustig über ihre mütterlichen Gefühle gegenüber ihren Kühen, von denen sie jede einzelne kannte. Doch insgeheim sagten die Leute – und das war nicht als Witz gemeint-, daß sie ihre Kühe mehr liebte als ihre Kinder, die sie erst zu Bett brachte, wenn sie den Kuhstall kontrolliert hatte. Einmal hatte Aharon verschlafen und war ängstlich und schwer atmend zu seiner Arbeit im Kuhstall erschienen. Guta sagte kein Wort, sie wandte noch nicht einmal den Kopf von dem Eimer, über den sie sich gebeugt hatte, und als er sich umdrehte, um Heu zu holen, sagte sie bloß: »Das ist nicht nötig, ich habe es schon gemacht. Glaubst du etwa, ich habe genug Zeit, um zu warten, bis du zu kommen geruhst?«
Aber Fanja war schlimmer als Guta, seine Angst vor ihr war noch größer. Die Male, die er zusammen mit Fanja Küchendienst hatte, waren die Hölle. Sie sprach während der ganzen Zeit kein Wort, sondern murmelte nur vor sich hin. Auch sie arbeitete in einem erschreckenden Tempo, ohne Pause, ohne Durchatmen. Nach dem Frühstück, wenn der Fußboden im Speisesaal geputzt war und sich die Küchendienstler zusammensetzten, um Kaffee zu trinken, schloß sie sich ihnen nie an. Immer fand sie noch eine Arbeit, putzte und reinigte irgendeine obskure Ecke, und die Töne, die sie dabei ausstieß, machten den anderen angst. Es wurde laut im Speisesaal, denn alle erhoben die Stimmen, um Fanjas jiddisches Murren zu übertönen, während sie sich an den Fensterrahmen zu schaffen machte.
Auch Fanja hatte zwei Kinder. Ihre Tochter hatte den Kibbuz verlassen. Sie wohnte in Haifa und kam mit Mann und Kindern nur sehr selten zu Besuch, höchstens an den Feiertagen. Bei diesen Gelegenheiten war Fanja sehr stolz. Im Speisesaal, wohin sie ihre Familie brachte, häufte sie ihre Teller voll bis über den Rand, verbissen und aggressiv, als warte sie nur darauf, daß jemand etwas darüber sagte, daß sie ihre Familie bewirtete.
Jankele, ihr jüngerer Sohn, wurde als »Problem« betrachtet. Aharon hatte ihn bei der Zeremonie gesehen, mager und jungenhaft aussehend – er war ein Jahr jünger als Aharon und Mojsch –, und noch immer mit demselben, wie festgefrorenen Lächeln, das seine Mundwinkel verzerrte und nichts mit seinen eigentlichen Gefühlen oder seiner Stimmung zu tun hatte. Jankele lebte allein im Viertel der Junggesellen, am Rand des Kibbuz, neben den Volontären. Er arbeitete fest in der Kosmetikfabrik, die von allen »Kombinat« genannt wurde. »Und das ist eine
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