Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
benommen hat.« Er deutete auf ein Foto, auf eine kleine Frau, die neben dem offenen Grab stand, den Mund weit aufgerissen. »Das ist sie. Sie heißt Fanja und ist für die Schneiderei verantwortlich, oder sie war es wenigstens.«
Nahari betrachtete Fanja und legte das Foto dann neben die Mappe. »Gut«, sagte er schließlich, »und was gibt es Neues?«
»Das Wichtigste ist, daß es für einige Dinge rationale Erklärungen gibt«, sagte Michael. »Awigail sollte selbst erzählen, was sie gestern nacht entdeckt hat.« Alle blickten nun Awigail an, die dasaß, die Stirn auf die aufgestützten Hände gelegt. Michael musterte sie forschend, er verstand sie noch immer nicht so recht. An seinem ersten Arbeitstag hier hatte es eine kleine Feier im Konferenzraum gegeben, damit er die Leute der Abteilung, der er nun vorstand, kennenlernte. Als Nahari Awigail einen Pappbecher mit Wein reichte, hatte er zu Michael gesagt: »Nehmen Sie sich vor ihr in acht, sie ist ein stilles Wasser.« Und Awigail hatte die Augen zusammengekniffen, und ein leichtes, kritisches Lächeln war auf ihrem Gesicht erschienen.
»Die Sache mit der Krankenpflegerin«, sagte Michael jetzt.
Awigail schob sich den Pony aus der Stirn, biß sich auf die Oberlippe und sagte leise und zögernd, die Worte sorgfältig wählend: »Es stimmt nicht, daß sie die Krankenstation nicht verlassen hat, vermutlich war sie etwa zwanzig Minuten nicht dort.«
Nahari richtete sich auf. »Wann?«
»Mittags, vor halb zwei. Ansonsten war alles so, wie sie gesagt hat.«
»Können wir vielleicht noch ein paar Einzelheiten erfahren?« fragte Beni, ein Mann aus Michaels Abteilung, der erst an diesem Tag dazugekommen war und es, wie er sagte, noch nicht geschafft hatte, »den Fall gründlich zu studieren«.
»Das ist das Wichtigste«, meinte Awigail. »Ich habe das Wesentliche gesagt.« Sie griff nach ihrem rechten Ellenbogen.
Michael legte die Zigarette vor sich in den Glasaschenbecher und sagte mit einer Stimme, von der er selbst nicht wußte, warum sie so weich klang: »Wir brauchen uns nicht die Aufnahme anzuhören, es liegt eine Abschrift des Verhörs vor, auf Seite vier – Awigails Gespräch mit Simcha Malul, die unterschriebene Aussage. Da findet man alle Details, aber vielleicht erzählst du es trotzdem ein bißchen ausführlicher, wie es so gelaufen ist.«
Awigails dünne, lange Finger schlossen sich um den Plastikbecher. »Was gibt es da zu erzählen?« sagte sie widerwillig. »Es steht wirklich alles da. Sie wohnt in Kirjat Mal' achi und arbeitet schon eine ganze Weile als Krankenpflegerin im Kibbuz in der Krankenstation. Ihre Arbeit wird sehr geschätzt. Sie versorgt vor allem die Alten, mindestens einen pflegebedürftigen Alten haben sie immer in der Krankenstation, sie haben überhaupt ein Problem mit den Alten.« Awigail schluckte. »Das ist aber nicht wichtig. Ich sprach mit der Frau, wir haben uns auf Anhieb verstanden, und dann kam heraus, daß sie, nachdem Osnat die Spritze bekommen hatte, da war es ungefähr halb zwei, zum Sekretariat des Kibbuz gegangen ist, um irgend etwas zu erledigen.«
Michael merkte, daß Awigail, mehr als alles andere, Simcha Malul vor etwas schützen wollte. »Warum ist sie zum Sekretariat gegangen?« fragte er. »Und warum hast du den Grund in deinem Bericht nicht angegeben?«
»Sie wollte etwas erledigen«, sagte Awigail.
Er ließ sich von ihrem zerstreuten Ton nicht täuschen. »Was wollte sie erledigen?« beharrte er und spürte, wie Ungeduld in ihm aufstieg. Jetzt bedauerte er auch, daß er nicht vor der Sitzung mit Awigail gesprochen hatte.
Sie schwieg und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Was hatte sie im Sekretariat zu erledigen?« fragte Nahars und blickte Awigail an.
Sie biß sich erst auf die Lippe, dann sagte sie heiser: »Sie hat sechs Kinder, und der Jüngste hat Schwierigkeiten. Sie wollte ihn im Kibbuz unterbringen.«
»Was für Schwierigkeiten?« fragte Michael und warnte sie: »Du kannst hier die Details nicht aussortieren. Wir müssen alles wissen und dann erst entscheiden, was wichtig ist und was nicht, was zum Fall gehört und was wir vergessen können.«
Noch während er sprach, bemerkte Michael den mißtrauischen Blick, den Nahari Awigail zuwarf, bevor er sagte: »Was ist los? Spucken Sie es schon aus. Was hat Sie so durcheinandergebracht?«
Awigail blieb kühl. Sie kreuzte die Arme unter der Brust, hielt mit den Händen ihre Ellenbogen und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Wenn
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