Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
ein Sachverständigengutachten bekommen.«
»Ich habe den Worten von Herzl Cohen entnommen, daß eine Expertise vorhanden ist«, sagte Michael. »Sie war der Grund, weshalb Felix van Gelden zweimal nach Amster dam geflogen ist, nachdem Herzl die Noten abgeholt hatte. Und vor nicht allzu langer Zeit ist Gabriel van Gelden zum gleichen Zweck rübergeflogen.«
Aber Balilati, der auf den Knien rutschte und mit einer Hand seinen Rücken stützte, war nicht bereit, auf die Gedanken zu verzichten, die ihm gekommen waren. Seine Miene – eine Art demonstrativer Konzentration, Erinnerungsgrimassen, die bei ihm stets mit einer Verengung der Augen, die sich auf einen entfernten Punkt hefteten, und ei nem Schnalzen einhergingen – zeigte, daß er im Begriff war, einen Vortrag zu halten.
»Ich kann es noch nicht glauben, daß Sipo so einfach mit ihm geplaudert hat«, sagte Balilati. »Kannst du dir das vorstellen! Wie meine verstorbene Mutter zu sagen pflegte, findet Gott für jeden Menschen zu guter Letzt eine Verwendung. Du weißt nie, wer, was, wo einmal tun wird. Wer mit wem, wo Erfolg hat. Herrschaft, wie mein Rücken verspannt ist!«
»Es wird vorbeigehen, wenn der Regen einsetzt«, ver sprach Ja'ir, der noch vor dem offenen Fenster stand und mit sichtbarem Vergnügen tief einatmete. »Es ist nur noch eine Sache von Minuten, bis es regnet«, faßte er zusammen. »Wollen Sie, daß ich hier suche?« fragte er und beugte sich zu einer langen Nische in der Wand unter dem Fenster, und ohne auf eine Anwort zu warten, öffnete er die Schiebe tür aus weißem, dünnem Holz und begann Partituren in schwarzen Einbänden herauszuziehen, auf deren Rücken rote Aufkleber prangten.
»Der Fall Malskat, zum Beispiel«, sagte Balilati wichtigtuerisch, »ist der interessanteste von allen. Hast du davon gehört?«
»Nein«, sagte Michael und leerte die untere Schreibtischschublade auf den Teppich. Er ging jedes Papier durch, wühlte zwischen Photographien – auf einem Photo stand Theo neben Leonard Bernstein bei einer feinen Abendgesellschaft, auf einem anderen Bild, einem alten Schwarzweißphoto, erkannte er sofort die kleine Nita, mit einem Lächeln, das Zahnlücken zwischen den Schneidezähnen bloß legte und ein tiefes Grübchen. Sie hielt ein Cello, das so groß wie sie selbst war. Wie süß sie aussah, dachte er plötzlich voller Sympathie. Helle Locken und ein lebendiger Blick, ernst und unschuldig. Er steckte das Photo in seine Brusttasche. Zwischen Schlüsselanhänger, Streichhölzern, einer Packung Zahnstocher, Aspirin, Zetteln und Quittungen fand er Liebesbriefe, die er aufmerksam las, Beschwerdebriefe, Ausschnitte von Kritiken, alte Programme, Grußkarten und auch ein Dokument, von dem sich herausstellte, daß es die vergilbte Kopie einer Scheidungsurkunde war.
»In Deutschland hat man irgendeine alte Kirche restauriert. Ein Restaurator mit Namen Malskat war ein ganzes Jahr damit beschäftigt. Er erlaubte keinem Menschen zu se hen, wie und was er machte. Er hat auf besonderen Gerü sten gearbeitet. Man hat sie eigens für ihn konstruiert. Als er fertig war, rief er alle zusammen, damit sie sahen, was er gefunden hatte – Deckenfresken, etwas ganz Besonderes, unbeschreiblich ... aus dem 13. Jahrhundert. Das ist eine Zeit, die du liebst, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Michael aus den Tiefen der zweiten Schublade.
»Aber was passierte? Ich habe immer gesagt, das Problem all dieser Leute, dieser Fälscher und Betrüger, auch das der kaltblütigen Mörder, ist, daß sie nicht kapieren, daß ein Mensch nicht an alles denken kann. Überhaupt«, erklärte er, als er in einem Musiklexikon blätterte, »sieh dir dieses Photo an, sieh dir das an«, er drehte das Buch zur Seite und las die Beschriftung sorgfältig, »das ist das Gesicht Beethovens. Sieh mal, wie er aussah.« Er blätterte eilig und legte das Buch beiseite, zu einem Stapel Bücher, die er schon über prüft hatte. »Überhaupt«, wiederholte und betonte er, »ist es ganz schön blöd zu denken, die ganze Welt sei zu dumm, um die Wahrheit zu erkennen. Weißt du, was ein Einfaltspinsel ist? Ein Einfaltspinsel ist einer, der denkt, er könnte alle hinters Licht führen, meinst du nicht?«
Michael stimmte zu. Aus den Augenwinkeln hatte er bemerkt, wie Wachtmeister Ja'ir behutsam die Partituren herauszog und langsam eine nach der anderen durchging.
»So war es auch mit diesem Malskat. Auf dem Gemälde waren acht Truthähne abgebildet. Aber im 13. Jahrhundert gab es in
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