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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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denn ein Marokkaner genau?«
    Rosenstein zögerte: »Mehr ... wie soll ich sagen ... mehr wie jemand, der aus einer unterlegenen Position kommt, eher ... irgendwie wilder ...«
    »Und ein Europäer?«, hakte Michael nach, »wie benimmt der sich? Er bedient sich der verantwortlichen Schwester? So zum Beispiel?«
    Der Rechtsanwalt schwieg einen Augenblick, fasste sich dann und sagte leise: »Schauen Sie, ich spreche mit Ihnen schon längst nicht mehr wie ein Anwalt mit einem Polizeioffizier, ich ... schon seit Stunden ... ich habe begriffen, dass Sie nicht, wie soll ich sagen, dass man mit Ihnen ganz offen reden kann, und glauben Sie mir, ich habe absolut nichts gegen Orientalen, Marokkaner, Jemeniten oder was auch immer, aber wenn man ehrlich ist, dann ... so wie es Witze über Polen gibt ... man braucht nicht gleich erbittert zu sein, wenn es ... die Marokkaner, die ganzen Orientalen lamentieren, dass sie von uns diskriminiert werden – man könnte glatt meinen, wir hätten im Paradies gelebt! Gerade die Orientalen hatten es in ihrem Exil relativ friedlich, während wir ...«
    Michael erwartete die Erwähnung des Holocaust, die nun zu folgen hatte, doch der Anwalt beugte sich zur Seite, zog Orli Schoschans Reportage zu sich heran und deutete mit dem Finger auf die Mitte der Seite. »Sie schreibt hier«, sagte er mit Vehemenz, »dass Sie mit einer Polin verheiratet waren – übrigens, mir scheint, dass ich ihren Vater kannte, er war ein bekannter Rechtsanwalt, Konkursverwalter, einer der ersten hierzulande ... wenn ich mich nicht irre, oder? Jedenfalls, das heißt, mit einer Aschkenasin, und hier steht auch, dass es kein Geheimnis ist, dass Sie aschkenasische Frauen bevorzugen, also entnehme ich dem ... nun gut, egal, ich sehe, dass Sie bereits verstimmt sind.«
    »Lassen Sie uns einen Augenblick zum Thema des Lebens auf Kosten des Nächsten zurückkehren«, sagte Michael, »ich möchte das genau verstehen. Denn Ihren Worten nach ist dabei nicht nur die Rede von extremen Situationen, und es geht hier nicht um Ethik im philosophischen Sinne, Sie sprechen davon in der Praxis, im Alltag, und laut Ihren Worten wäre es, so wie Sie es verstehen, damit also auch zulässig, sagen wir einmal, ein junges Mädchen zu ermorden, das Ihre Familienharmonie, die Gesundheit Ihrer Frau oder das Glück Ihrer einzigen Tochter bedroht ... das wären hinreichende Gründe für –«
    »Reden Sie keinen Unsinn«, schnitt ihn der Anwalt ab, »ich meine ... es ist wie ...« Sein Gesicht erhellte sich plötzlich. »Haben Sie Altneuland gelesen?«
    »Altneuland?«, fragte Michael verblüfft, »von Theodor Herzl?«
    »Ja, ja, ich ... schon vor Jahren ist mir aufgefallen, dass Herzl ... weshalb, glauben Sie, hat er die Araber nicht einmal er wähnt? Er träumt von einem Staat, Palästina, und beschreibt ihn ... als gäbe es keine Araber, warum wohl?« Hinter seinen Brillengläsern glänzten seine kleinen Augen nicht in Erwartung einer Antwort, sondern vor purem Vergnügen über die Möglichkeit der Erklärung. »Wenn er sie in Betracht gezogen hätte, hätte er sie wirklich mit einkalkulieren müssen, verstehen Sie, was ich meine?«
    Michael gab keine Anwort.
    »Und dann hätte es vielleicht überhaupt keinen jüdischen Staat gegeben, richtig? Denn wenn ein Mensch leben will«, plädierte Rosenstein, »wie soll man das sagen? Wenn man etwas Großes macht, einen großen Schritt im Leben ... in den schicksalhaften Augenblicken des Lebens kann man den Rest nicht in Betracht ziehen ... glauben Sie mir, ich hab’s gesehen, ich war ... und ich spreche nicht von den Deutschen, das versteht sich be kanntlich von selbst, es ist keine große Kunst mehr zu sagen, dass die Deutschen Bestien sind ... ich rede von dem, was die Juden einander angetan haben, um am Leben zu bleiben, und das ... das waren Menschen, die ... Sie können nicht richten ...«, ein verzweifeltes Drängen sprach nun aus seiner Stimme, »so wie Herzl nicht imstande war, an die Araber zu denken, so war ich nicht in der Lage .... das heißt in dem Fall, an die Jemeniten ...«, seine Stimme festigte sich, »Sie haben selbst gesagt: Gerade in Ihrer Arbeit sehen Sie das die ganze Zeit ...«
    »Was ich sehe«, korrigierte ihn Michael, »ist, dass man immer eine Wahl hat, daran glaube ich, und ich habe Beweise dafür. Nicht jeder Mensch ist bereit, einen anderen Menschen zu fres sen, um auf dem Floß oder auf einer einsamen Insel zu überleben, man muss in Betracht ziehen, dass es auch solche

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