October Daye: Nachtmahr (German Edition)
und versuchte meine Verstörung zu verbergen. »Wie jetzt, heißt das, sie kann sich alles erlauben?«
»Nur bis du stirbst«, erwiderte May in einem Tonfall, der vermutlich beruhigend gemeint war.
Ich verdrehte die Augen und verzog mich in die Küche. May winkte der Luidaeg nochmals zu und hängte sich an meine Fersen.
Natürlich hätte ich bedenken müssen, was geschehen würde, wenn ich mit meiner erwachsenen Doppelgängerin in der Küche auftauchte, aber ich war müde und verängstigt und schwer mitgenommen und hatte mir keinerlei Gedanken darüber gemacht. Die meisten der Kinder blieben aneinandergekuschelt sitzen, mehr im Schlaf als wach. Sie hatten nie mitbekommen, wie ich normalerweise aussah, und wussten nur vom Hörensagen, dass ich schon mal erwachsen gewesen war.
Quentin hielt sich bemerkenswert gut – seine Hände krampften sich um Katies Stuhllehne, aber sonst zeigte er keine Regung. Stumm wartete er auf mein Zeichen, bereit zum Angriff oder zur Flucht, was immer ich befahl. Der Junge lernte dazu. Jessica hingegen verhielt sich weniger diskret. Sie sah auf und fing an zu schreien, legte die Arme wie einen Schutzschild um den Kopf und versuchte sich hinter Andrew zu verkriechen. Katie zuckte heftig zusammen, und der Bann, der sie ruhig hielt, verlor sichtlich an Wirkung. In null Komma nichts waren die anderen Kinder hellwach und versuchten stolpernd auf die Beine zu kommen, nackte Panik im Blick. Ich eilte durch den Raum zu Jessica, löste ihre Arme von ihrem Kopf und machte beruhigende Geräusche. Es hatte schon viel zu viel Geschrei gegeben.
Andrew funkelte seine Schwester empört an, dann ließ er seinen Blick ernst von mir zu May wandern und nahm den Daumen aus dem Mund. Jessica schrie weiter wie angestochen, die Augen fest zugekniffen, bis ich ihr schließlich entnervt den Mund zuhielt. Das drang zu ihr durch. Sie riss die Augen auf und starrte mich an.
»Jessie, du musst dich bitte sofort beruhigen«, sagte ich. »Alles in Ordnung. Sie ist nicht hier, um uns was zu tun.« Das Geschrei brach ab, aber ihre Atmung wurde nicht ruhiger. Ich nahm die Hand von ihrem Mund und legte beide Arme um sie.
Andrew schaute mich prüfend an, dann wandte er sich an May. »Du bist nicht meine Tante«, verkündete er grimmig.
May nickte. »Stimmt.«
»Das ist sie«, er zeigte auf mich.
»Stimmt genau.«
»Na gut.« Er schob den Daumen wieder in den Mund. Die Sache war geklärt: Solange May wusste, dass sie nicht seine Tante war, konnte ihm egal sein, mit wessen Gesicht sie herumlief. Manchmal beneide ich Kinder um die Fähigkeit, alles auszublenden, was sie nicht unmittelbar betrifft. Sie beißen sich zwar auch an Kleinigkeiten fest, aber wenigstens sind es andere Kleinigkeiten.
Bewusst leise und ruhig sagte ich: »Jessica, das ist meine Kusine May. Sie ist hier, um uns nach Hause zu fahren.« Normalerweise lüge ich Kinder nicht an, aber irgendwie schien es mir nicht dienlich, ihnen jetzt auf die Nase zu binden, dass ihre Retterin verdammt war, demnächst zu sterben. »Du willst doch nach Hause, oder?« Jessica schniefte und nickte, wobei sie sich fester an mich klammerte. »Das ist mein braves Mädchen.«
Die Luidaeg lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie dünstete wachsende Wut, so spürbar, als ginge Strahlung von ihr aus.
Ich ließ Jessica los und richtete mich auf. »Luidaeg?«
»Ja?«
»Ich muss die Kinder nach Hause schaffen. Aber mein Wagen … «
»Du willst, dass ich diesen Schrotthaufen, den du hartnäckig als dein Auto bezeichnest, mit einem Raumerweiterungszauber aufrüste? Blut und Dornen, Toby, wenn du dich mal entschließt, Schulden zu machen, gibt’s wohl kein Halten mehr.« Sie schnippte mit den Fingern. »Erledigt, und mit einem Sieh-nicht-her-Zauber als Dreingabe, damit du deinen dämlichen Arsch in Deckung halten kannst. Jetzt aber raus hier.«
»Luidaeg … « Ich wollte ihr danken, aber das war nicht erlaubt. Warum kann nicht mal irgendwas einfach sein?
Sie lächelte bitter. »Haut schon ab. Genau das willst du doch, oder?«
»Ich werd mal alle hier rausschaffen«, verkündete May unvermittelt mit geradezu aufdringlicher Heiterkeit. Vielleicht war sie doch cleverer, als ich dachte. Sie machte sich daran, Kinder aus allen Ecken und Winkeln zu ziehen und sie zur Tür zu dirigieren.
»Raj, Quentin, ihr nehmt Katie und Helen und geht mit May mit«, wies ich an, ohne meinen Blick von der Luidaeg zu nehmen. Es gab keine Widerrede. Raj glitt zurück in
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