October Daye: Nachtmahr (German Edition)
menschliche Gestalt, und für ein paar Minuten war die Küche erfüllt von Geschlurfe, Gewisper und leisem Gejammer, während sie sämtliche Kinder und ein paar Cait Sidhe in Katzengestalt in den Flur bugsierten. Spike startete durch, sprang auf die Anrichte und von da in meine Arme. Ich drückte ihn an mich, froh über die Berührung. Spike hatte sich kein Stück verändert. Genau das brauchte ich jetzt.
Als sich die Küche geleert hatte, fragte ich: »Luidaeg, was ist los?«
»Los?« Die Farbe wich aus ihren Augen, als sie mich anblickte, bis sie weiß und wütig kalt wirkten. Die Falten in ihrem Gesicht traten stärker hervor und gaben ihr etwas Fremdes. Sie hatte ihr menschliches Aussehen nicht mehr im Griff. Das machte mir Angst. Was hatte ich nur gesagt, was sie dermaßen aufregte? »Wie kommst du darauf, dass irgendwas los ist, October Daye, Amandines Tochter? Ich hab geschworen, dich sterben zu sehen. Sieht aus, als würde ich damit recht behalten.«
Oh, Eiche und Esche, ich hatte sie in Bezug auf May nicht vorgewarnt. »Luidaeg, ich – «
»Bist du deshalb so bereitwillig zu mir gekommen? Weil du sowieso damit rechnen musstest, bald zu sterben?« Ihre Stimme wurde lauter. »Ich hab dich nie für einen Feigling gehalten. Und jetzt verzieh dich aus meinem Haus.«
»Luidaeg – «
»Raus!« Ihre Hände krümmten sich zu Klauen. Ich bin nicht blöd. Es gefiel mir nicht, zu gehen, solange die Luidaeg wütend auf mich war – so gefährlich sie auch sein kann, betrachte ich sie immerhin als Freundin – , aber ich wollte mich auch nicht von ihr umbringen lassen, nur weil ich mein Glück überstrapazierte. Spike fest an mich gedrückt, wandte ich mich ab und hastete in den Flur hinaus, dann weiter nach draußen.
Das Sonnenlicht war regelrecht ein körperlicher Schock. Ich taumelte, und der Türknauf traf mich in die Seite, als die Tür heftig hinter mir zuschlug. Spike sprang von meinem Arm und eilte außer Reichweite, um nicht getroffen zu werden, wenn ich umfiel. Dann schob sich ein Arm unter meinen, und Raj war da und stützte mich.
»Ungeschicktes Halbblut«, bemerkte er verächtlich.
Ich lächelte und hoffte, damit meine Panik zu überspielen. »Hab ja nur die Luidaeg vergrätzt. Nix Schlimmes.«
»Ungeschickt und dämlich«, versetzte er mit einem leisen Unterton von Respekt. Er ließ mich los und ging zu meinem Wagen. May lehnte am Kühler, und die Kinder saßen schon drin. Sämtliche Kinder. Wenn die Luidaeg Raum schuf, machte sie keine halben Sachen.
Man kriegt vier Leute in einen VW -Käfer, wenn alle sich mögen. Vielleicht fünf, wenn man keinen Sauerstoff im Wagen braucht, oder sogar sechs, wenn es allen egal ist, dass ihnen sämtliche Gliedmaßen einschlafen. Mehr geht einfach nicht, das ist das Äußerste. Ich war nie dazu gekommen, die Kinder, die ich Blind Michael entrissen hatte, gewissenhaft durchzuzählen, aber es waren auf jeden Fall weit über zwanzig. Sie alle, bis auf Raj und Quentin, hatten auf der Rückbank Platz gefunden. Ich wusste, dass mein Auto so groß nicht war. Meine Augen aber sagten mir etwas anderes.
Hadere nie mit Tatsachen, die zu deinen Gunsten ausfallen. Ich marschierte zur Beifahrertür, öffnete sie und sagte: »Also los, alle rein.«
Quentin und Raj kletterten nach hinten, wobei Quentin mir kurz die Schulter drückte. Ich stieg vorne ein und zuckte kaum, als Spike mit ausgefahrenen Krallen auf meinen Schoß sprang. »Geht’s allen gut da hinten?«
Es gab einen leisen Chor gemurmelter Zustimmung. May öffnete die linke Tür, nahm auf dem Fahrersitz Platz und klinkte ihren Gurt ein. »Alle angeschnallt?« Erneutes Murmeln des Chors. »Gut!«
Ich warf ihr einen Seitenblick zu, als ich meinen Gurt befestigte. »So sicherheitsbewusst?«
»Na, logo. Niemand ist unsterblich.« Sie zwinkerte mir zu. Ich unterdrückte ein Schaudern. »Und, wohin?«
»Nach Schattenhügel.«
»Was immer du sagst, Boss!« Sie trat energisch auf die Kupplung, hieb einen Gang rein, und im nächsten Moment schossen wir in einem solchen Tempo die Straße runter, dass ich mich krampfhaft ans Armaturenbrett klammerte und sie fassungslos anstarrte. Dass ich nicht durch die Windschutzscheibe gucken konnte, machte die Lage nicht besser. Ich hatte völlig vergessen, wie beängstigend Auto fahren für Kinder sein kann. Du weißt nicht, wohin du gefahren wirst, du kannst nicht sehen, wo es langgeht, und du weißt nicht, ob du die Fahrt überleben wirst.
Mays Fahrweise half auch nicht gerade.
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