October Daye: Winterfluch (German Edition)
abgelaufen war, denn dafür gilt ein Limit von sieben Jahren auf der Vermisstenliste. Das fand ich immer ein wenig ironisch, zumal sieben Jahre zugleich der traditionellen Gewahrsamsfrist für jene Menschen entsprechen, denen es gelingt, den Weg in die hohlen Hügel zu finden. October Daye, ruhe in Frieden.
Oberon sei Dank für Evening Winterrose, in der Welt der Sterblichen bekannt als »Evelyn Winters«. Sie war die Einzige, bei der ich wusste, dass sich ihre Telefonnummer in den vergangenen Jahren nicht geändert haben würde. Ich benutzte den mir zustehenden Anruf, um sie anzuflehen, herzukommen und mich abzuholen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie brüllen würde, doch das tat sie nicht. Stattdessen kam sie zum Revier, bestätigte, dass ich war, wer ich zu sein behauptete, und überzeugte die Polizei irgendwie davon, mich in ihre Obhut zu entlassen. Danach brachte sie mich in ein Motel, wo ich einen klaren Kopf bekommen konnte. Wir wussten beide, dass es nicht hilfreich gewesen wäre, zu ihr nach Hause zu fahren, weshalb wir es beide auch gar nicht erst vorschlugen. Dem Betreten des Hoheitsgebiets von jemand anderem war ich nicht gewachsen.
Sie blieb den ganzen Tag bei mir. Zum Abendessen bestellte sie Pizza und schimpfte so lange auf mich ein, bis ich davon aß. Das Telefonbuch versteckte sie, damit ich nicht versuchen konnte, Cliff zu finden. Sie rief Pagen herbei und schickte sie los, um die anderen regionalen Adligen von meiner Rückkehr zu benachrichtigen. Und als die Sonne unterging und ich endlich zu weinen anfing, nahm sie mich in die Arme und hielt mich fest. Daran werde ich mich immer erinnern. Evening war nie eine besonders freundliche Person gewesen, aber sie hielt mich, solange ich es brauchte, und verlor kein einziges Wort darüber, dass meine Tränen ihre Seidenbluse besudelten oder dass ich ihre Welt ins Chaos gestürzt hatte. Wenn es hart auf hart ging, tat sie, was getan werden musste, und sie wies ihresgleichen nicht zurück.
Danach wurde es ein wenig besser. Die Reinblütler der Stadt waren bereit, mich nach Kräften zu unterstützen, und die Wechselbälger halfen mir sogar noch mehr. Meine Weigerung, viel mit ihnen zu tun zu haben, band ihnen ein wenig die Hände, und dennoch gaben sie ihr Bestes, bevor sie mich mir selbst überließen. Evening bot mir an, meine Lizenz als Privatdetektivin erneuern zu lassen, was ich jedoch ablehnte. Diesen Weg hatte ich schon einmal beschritten, und es hatte mir nur Unheil eingebracht.
Ich glaube, man hat meiner Mutter gesagt, dass ich zurück war, aber ich bin nicht sicher, ob sie es überhaupt begriffen hat. Sie versteht in letzter Zeit nicht mehr viel. Ihre Zeit verbringt sie damit, durch die Sommerlande zu wandeln und Lieder vor sich hinzusummen, die niemand kennt, und an Türen zu rütteln, die niemand sonst sieht. Auf ihre Weise hat sie noch mehr Zeit verloren als ich.
Evening riet mir, keinen Kontakt zu Cliff aufzunehmen, bis ich bereit dazu wäre. Ich hielt länger durch, als ich es für möglich hielt: Fast drei Tage vergingen, bevor ich ihn anrief. Ich konnte ihm nicht sagen, wo ich gesteckt hatte oder was geschehen wa r – einem Mann, von dem man für so menschlich wie er selbst gehalten wird, kann man schlecht erklären: »Ich wurde in einen Fisch verwandelt.« Daher griff ich auf alte Klischees zurück, behauptete, ich hätte infolge eines Angriffs des Mannes, den ich beschattet hatte, einen Gedächtnisverlust erlitten und wüsste nicht, was geschehen sei. Unsere Beziehung hatte von jeher auf Lügen basiert, und tief in seinem Innersten musste er es gewusst haben. Vermutlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass er einfach auflegte oder dass Gilly nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Sie hatten ohne mich weitergemacht und sich ein Leben geschaffen, in dem es keinen Platz für eine Pennerin gab, die sie vierzehn Jahre lang hatte trauern lassen. Ich konnte nicht erklären, weshalb ich weg gewesen war, und so entstand nur ein Schweigen, das keine Liebe zuließ. Ich rief aber weiter an. Und sie weigerten sich weiter, mit mir zu reden.
Das war im Juni. Seither habe ich getan, was ich konnte, um mir den Anschein eines Lebens zusammenzubasteln. Aber nichts kann die Jahre zurückbringen. Die Sommer, die Winter, die letzten Stunden mit meiner Mutter, bevor sie endgültig in ihre eigene, abgekapselte Welt abglitt, jede kostbare Minute mit meinem kleinen Mädche n – alles ist für immer verschwunden, und ich werde es nie
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