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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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davon geblieben sind. Meine Erinnerung an jene Zeit besteht vorwiegend aus trägen Wellen, die sich durch das Wasser ziehen, und wahrscheinlich ist das sogar eine Gnade. Einiges hebt sich davon ab, aber nicht viel: das erste Licht des Tages, wie es das Wasser färbt; Menschen, die auf schmalen Holzpfaden vorbeigehen; hektisches Kreisen an der Wasseroberfläche zweimal im Jahr an den Umzugstage n – wenngleich ich nie eine Ahnung hatte, weshalb. Ich sah am Umzugstag überhaupt keine Pixies, doch ich wusste nicht, was ihre Abwesenheit bedeuten konnte. Ich begriff überhaupt nicht viel.
    Sogar in meiner Gestalt als Fisch brannte der Sonnenaufgang. Jeden Morgen stieg ich an die Oberfläche auf, ließ das Licht meine Schuppen benetzen, und einen Augenblick lang ergaben die Dinge beinah einen Sinn. Ein Teil von mir ahnte trüb, dass etwas nicht stimmte, und jener Teil verstand, dass mich der Sonnenaufgang befreien könnte, wenn ich geduldig wäre. Wäre es mir nicht gelungen, mich an das Wissen zu klammern, dass etwas an diesem Ort, dieser Welt, das s … alles nicht stimmte, ich wäre womöglich bis zu meinem Tod in dem Teich geblieben. Vielleicht half der Sonnenaufgang dabei, der den Zauber langsam eine Schicht nach der anderen abtrug, bis er zerbrach. Vielleicht auch nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich es nie erfahren.
    Was ich jedoch weiß, ist, dass Simons Zauber unmittelbar vor dem Sonnenaufgang am 14. Juni 2009 nachgab, genau vierzehn Jahre und zwei Tage, nachdem er gewoben worden war. Es gab keine Vorwarnung. Der Zauber zwang mich nicht, zur Oberfläche aufzusteigen, ebenso wenig erhob er mich auf einer Muschel aus dem Wasser wie eine moderne Venus. Er verpuffte einfach, und ich begann zu ertrinken. Ich stieß mich vom Wasser weg, schluchzte in hilfloser Verwirrung und japste nach Luft. Der Zauber hatte meinen Körper freigegeben, umklammerte jedoch nach wie vor meinen Verstand, und ich konnte nicht begreifen, was geschah. Die Welt schien rundum verkehrt zu sein. Da waren Farben, die nicht existieren sollten, und alles, was ich sah, befand sich unmittelbar vor mir statt ordentlich an den Seiten. Aus einem orientierungslosen Instinkt heraus stand ich auf und fiel prompt rücklings, als sich mein bereits zittriges Verständnis der Realität weigerte zu akzeptieren, dass ich Beine besaß.
    Der Himmel verblasste, während ich noch im Wasser kauerte. Die Kälte trieb mich schließlich an Land, und irgendwie gelang es mir aufzustehen, ohne mich dabei umzubringen. Ich erinnere mich nicht daran, wie ich es bewerkstelligte. Jedenfalls lief ich irgendwann auf halb abgefrorenen Füßen mutterseelenallein die Pfade entlang. Keine der üblichen Bewohner des Teegartens waren zugege n – keine Pixies, keine Irrwische, nicht s – , aber ich war zu verwirrt, um ihre Abwesenheit als seltsam zu empfinden. Das sollte erst später kommen, als ich zu begreifen begann, was geschehen war. Eine Menge Dinge kamen erst später. Vorerst wanderte ich ziellos umher, stolperte gelegentlich oder hielt inne, um noch mehr Wasser auszuhusten. Ich kannte weder meinen Namen, noch wusste ich, wo ich mich befand oder was ich war. Ich wusste nur, dass der Teich mich verstoßen hatte und ich nirgendwohin konnte. Ich erinnerte mich an kein anderes Leben. Was sollte nun aus mir werden, da ich nicht zurück nach Hause konnte?
    Als ich die Tore erreichte, befand ich mich in einem Zustand äußerster Panik und war bereit, beim geringsten Anlass Reißaus zu nehmen. Dann erregte der Spiegel, der neben dem Kartenschalter hing, durch sein Glitzern meine Aufmerksamkeit, und bannte sie mit dem Bild, das er mir zeigte.
    Es handelte sich um ein müdes Gesicht, in dem die Enden spitzer Ohren ein wenig durch das nasse, zottige braune Haar lugten. Die Haut war durch ein Jahrzehnt ohne Sonne blass, die Züge wirkten zu scharf geschnitten, um schön zu sein, wenngleich die Leute sie als »interessant« bezeichneten, wenn sie freundlich sein wollten. Die Augenbrauen wölbten sich hoch und vermittelten dadurch einen Eindruck ständiger Überraschung, die Augen wiesen ein farbloses Nebelgrau auf. Wie gebannt starrte ich hin. Ich kannte dieses Gesicht. Ich hatte es immer gekannt, denn es war das meine.
    Ich stand immer noch glotzend dort, als mich der Sonnenaufgang erfasste und die Wahrheit darüber, wer und was ich war, auf mich herabstürzen ließ, zusammen mit der unausweichlichen Erkenntnis, was geschehen sein musste. Es war zu viel. Ich tat das Einzige, was

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