October Daye: Winterfluch (German Edition)
willigte ein, ohne zu zögern, und danach sah ich Devin nur noch zweimal. Einmal an dem Tag, als ich ihm mitteilte, dass ich gehen würde, das andere Ma l …
Mit einem Ruck richtete ich die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, die zunehmend verwahrloster wirkte. Schmutz ging in Verfall über. Mein Ziel lag im Zentrum des Drecks, an einem Ort, den man nur dann aufsuchte, wenn man sonst nirgendwohin konnte. Es ist und war nie ein Ort für Kinde r – und vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb wir uns dort scharten, uns in einem sterbenden Nimmerland einfanden, über das ein Mann herrschte, der mehr Kapitän Hook als Peter Pan war. »Du kommst zurück«, hatte Devin an dem Tag gesagt, an dem ich ihn verließ. Meine Handgelenke waren damals noch aufgeschunden, meine Lippen brannten. Und er sollte recht behalten, denn da war ich nun: auf dem Weg zurück ins Heim.
Das Gebäude, vor dem ich parkte, sah verlassen aus, aber wahrscheinlich diente es nach Sonnenuntergang zwanzig Leuten als Unterschlupf. Hier im Landesinneren erschien mir die Luft noch kälter. Ich raffte meine nassen Röcke und zitterte, als ich die Autotür abschloss. Eigentlich hatte sich nichts geändert. In der Gasse lag Abfall mit anderen Logos, und die im Hintergrund dröhnende Musik klang auch anders, aber die Augen der Leute, die mich von den Türen und Fenstern aus beobachteten und abschätzten, als ich an ihnen vorüberging, waren unverändert: hungrig, zornig, hoffnungsvoll. Sie alle brauchten irgendetwas, und jeder Einzelne hoffte, ich wäre diejenige, die es bieten könnte.
Pfiffe und Beleidigungen folgten mir den Häuserblock entlang bis zu einem kleinen, unscheinbaren Laden, der sich eingekeilt zwischen einem verfallenden Motel und einem rund um die Uhr geöffneten Massagesalon befand. Ich hielt inne und fühlte mich, als fiele ich rückwärts durch die Zeit. Alles fühlte sich genau gleich an, bis hin zu dem alten Hauch des Vergnügens, der Pein und der Versprechen. Alles war so trügerisch verlockend wie das Parfüm eines Callgirls. Zum Hineingelangen bedurfte es keiner Tricks, denn Devin wollte ja, dass man eintrat. Der schwierige Teil bestand eher darin, wieder herauszukommen.
Das große Schaufenster war mit Brettern vernagelt, die mit Graffitis besprüht waren und über der Tür war ein schlichtes Messingschild befestigt. »Heim: Wo man verweilt.« Das Schild wurde nie schmutzig und beschlagen. Es diente als Knoten für einen so mächtigen Irreführungszauber, dass ich noch nie einen Menschen gesehen hatte, der auf das Gebäude blickte, geschweige denn zur Tür. Devin sagte, er hätte es von einem Coblynau-Reinblut erworben und das Schild samt dem Zauber für lediglich eine Stunde in seinen Armen eingetauscht. Als er mir das zum ersten Mal erzählte, nannte ich ihn einen Lügner. Coblynau sind hässliche, einsame Geschöpfe, die Metall mehr lieben als Luft, und die Versprechen, derer es bedurfte, um ihnen eine Klinge oder einen Armreif aus ihrer Herstellung abzuringen, sind derart anspruchsvoll, dass ich Devin kaum zugetraut hätte, auch nur einen kümmerlichen Ring von ihnen zu ergattern.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis mir klar wurde, dass er keineswegs gelogen hatte. Die Bedürfnisse anderer geradezu beiläufig zum eigenen Vorteil zu nutzen gehörte zu den Dingen, die Devin am besten beherrscht. Er stahl, was immer er haben wollte, und teilte seine unrechtmäßig erworbene Habe mit seinen Kindern, den hohläugigen Mädchen und den Jungen mit den verschwitzten Händen, die sich um ihn scharten und darum beteten, er möge die Antworten haben, die sie suchten. Nun war ich also zurück und betete um dasselbe.
Ich öffnete die Tür und trat ein.
Der Hauptraum des Heims war groß, quadratisch, übersät mit uralten Möbeln und erhellt von einem irgendwo ergatterten Generator, der zwei Kühlschränke und eine alte Jukebox sowie die Lampen an der Decke mit Strom versorgte. Aus der Jukebox dröhnte so laut Heavy-Metal-Musik, dass der Boden förmlich vibrierte. Die Luft stank nach Rauch, Erbrochenem, abgestandenem Bier und den Gelüsten des Vortags; nach all dem, was ich hinter mir gelassen hatte, als ich aufgebrochen war, um in einer anderen, saubereren Welt zu leben.
Einige Teenager lungerten in dem sonst verwaisten Zimmer wie die Zierstücke herum, die sie tatsächlich waren. Ich war ihnen allen noch nie begegnet, dennoch erkannte ich sie auf Anhieb, weil sie genauso Devins Kinder waren, wie ich es einst gewesen war.
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