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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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Bürogebäude zu betreten. Man kann die Grenzen der Glaubwürdigkeit bis zu einem gewissen Grad dehnen, darüber hinaus jedoch wird es nur noch albern.
    Der Geschmack von Rosen ließ nach, während ich ging. Es war wie ein Suchspiel mit den Hinweisen heiß und kalt , jedoch mit umgekehrten Regeln: Je näher ich meinem Ziel kam, desto schwieriger wurde es zu wissen, wohin ich musste. Sollte ich Evenings Mörder fassen, würde der Fluch brechen und die Rosen würden gänzlich verblassen. Dann könnte ich nach Belieben weiterleben oder sterben. Meine Finger zeichneten die Umrisse des Schlüssels in meiner Hand nach und versuchten, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Evening hatte sich mehr Gedanken um ihn als um das eigene Leben gemacht. Warum? Geborgte Erinnerungen regten sich in den hinteren Winkeln meines Geistes und zischten mit Evenings Stimme: Der Schlüssel öffnet den Weg nach Goldengrün. Da hielt ich plötzlich inne und stolperte um ein Haar.
    In Blut zu lesen ist keine exakte Wissenschaft. Bruchstücke der Person, mit der man reist, können sich mehrere Tage halten und geben ihre Geheimnisse nach und nach preis: wie Sand, der durch ein Sieb rieselt. Zuvor hatte ich den Schlüssel noch nicht in einem Zusammenhang mit Goldengrün betrachtet. Es ergab aber durch und durch Sinn. Was mir zutiefst widerstrebte.
    Goldengrün war Evenings Mugel und das Portal zu ihren kleinen Besitztümern in den Sommerlanden. Der Ort war nach ihren Wünschen verriegelt und versiegelt, und die Vorstellung, ihn zu betreten, gefiel mir ganz und gar nicht. Sobald ich einen Fuß hinter die Grenzen von Goldengrün setzte, würde die Gefahr, erwischt zu werden, stetig zunehmen. Daran hatte ich nicht gedacht. Was würde jemand, der in der Lage gewesen war, Evening zu töten, mit mir anstellen? Wahrscheinlich nichts, was mir gefiele. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätt e – dafür sorgte Evenings Fluch. Wenn der Schlüssel etwas in Goldengrün öffnete, dann war Goldengrün mein nächstes Ziel.
    Die Vordertür erwies sich trotz der späten Stunde als unversperrt. Ich zögerte mit der Hand auf dem Knauf, dann trat ich ein und durchquerte die Eingangshalle zum Fahrstuhl. Auch hier waren keine Nachtwächter. Dennoch entspannte ich mich erst, als sich die Fahrstuhltüren zwischen mir und der Eingangshalle schlossen und ich zu den Verwaltungsbüros in der neunten Etage hinauffuhr. Das Letzte, was ich wollte, war, darüber befragt zu werden, was ich hier tat, aber das Glück blieb mir hold.
    Aber es konnte nicht von Dauer sein. Die Tür, die aus dem Fahrstuhlraum im neunten Stock führte, war versperrt. Schlimmer noch, es handelte sich um eines dieser neuartigen Schlösser mit Schlüsselkarten. Somit konnte ich nicht einmal versuchen, es zu knacken. Ich rüttelte einige Male am Griff, bevor ich es mit finsterer Miene aufgab. »Na, fantastisch«, brummte ich. »Und was soll ich jetzt tun?«
    Manchmal setzt die Wirklichkeit mit ihrer Subtilität aus und haut einem stattdessen eher derb auf den Kopf. Mit einem magischen Schlüssel in der Hand vor einer versperrten Tür zu stehen zählt wohl dazu. Ich hob den Schlüssel an. Nicht einmal in der schummrig flackernden Notbeleuchtung wirkte er wie die billige Bühnenrequisite, als die er hätte erscheinen müssen.
    »Lässt du mich hinein?« In der Hoffnung, dass ich nicht vollkommen wahnsinnig war, drückte ich ihn gegen das Schloss und sagte: »Ich bin auf Geheiß der Gräfin von Goldengrün hier.«
    Nichts geschah. Ich schlug mit dem Handballen gegen die Tür und fluchte: »Sesam, öffne dich, verdammt.«
    Der Schlüssel flackerte, die Tür schwang auf.
    Ich glotzte ungläubig darauf. Dann sammelte ich meine Sinne und trat durch die Tür, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Auf verschrobene Weise ergab es auch einen Sinn: Die meisten Leute würden annehmen, Evening hätte ihre Schlösser auf blumigere, formelle Formeln eingestellt. Sie konnte so gut wie jeden fernhalten, indem sie die Dinge einfach gestaltete.
    In den Büros herrschte eine fast vollständige Finsternis. Behutsam zog ich die Tür hinter mir zu und blieb, wo ich war, um meinen Augen Gelegenheit zu geben, sich anzupassen. Ich hatte keine Nachtwächter gesehen und keinen Alarm ausgelöst, den ich bemerkt hätte. Aber das bedeutete keineswegs, dass es auch eine gute Idee wäre, die Lichter einzuschalte n – und ich, hervorragend vorbereitet wie immer, hatte meine Taschenlampe im Kofferraum vergessen. Für Evening oder meine

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