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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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glitt die Schublade mühelos heraus. Gleichzeitig erlosch das Licht des Schlüssels. Ich blinzelte in der plötzlichen Dunkelheit. »Mist.«
    Ich habe schon Schlimmeres hinter mir, als mir den Weg aus einem Bürogebäude zu ertasten. Ich steckte den Schlüssel vorn in mein Oberteil, wo er sich hoffentlich wieder aufladen würd e – magische Gegenstände dieser Art tun das für gewöhnlich, wenn man ihnen Zeit läss t – , dann griff ich in die Schublade. Der Gedanke an mögliche Fallen ging mir durch den Kopf, und ich unterdrückte ihn, so gut ich konnte. Dennoch blieben mir Zweifel, und ich empfand Erleichterung, als meine forschenden Finger nur auf Hängeakten stießen.
    Ich ließ meine Hände daran vorübergleiten und tastete mich weiter vor. An der Rückseite der Schublade befand sich etwas Hartes, halb vergraben unter einem Stapel losen Papiers. Ich schob das Papier beiseite und befühlte die Ränder des Gegenstandes. Es schien sich um eine Holzschatulle zu handeln, etwa von der Größe eines dicken Taschenbuchs. Meine Finger kribbelten, als sie darüberstrichen, und das Kribbeln wurde bald zu einem Brennen, das sich meine Arme hinauf ausbreitete, als ich die Schatulle anhob und aus der Schublade nahm. Das Brennen schmerzte nicht, sondern war in gewisser Weise geradezu angenehm, so als riebe man warmes Öl in wunde Muskeln.
    Meine Augen mussten sich angepasst haben, während ich in dem Aktenschrank umhergetastet hatte, denn ich konnte deutlich erkennen, was ich da hielt. Ich starrte darauf. Das stetig anschwellende Brennen in meinen Armen war vergessen.
    Es war eine Hoffnungslade.
    Eine richtige, waschechte Hoffnungslade, geschnitzt von Oberons Hand aus den vier geheiligten Hölzern von Faeri e – Eiche und Esche für die Festigkeit und Ausgewogenheit, Vogelbeere und Dorn des Musters und des Schutzes wegen. Ich wusste, was das für ein Gegenstand war. Jedes Kind in Faerie, ganz gleich wie dünn sein Blut auch sein mochte, hätte es gewusst. Und es konnte nicht sein, was es war, da es ein unmögliches Ding verkörperte, eine Gutenachtgeschichte. Es existierte gar nicht. Dennoch hielt ich es in den Händen, und es stellte den Grund dafür dar, dass Evening getötet worden war. Etwas anderes war nicht möglich.
    Den Geschichten zufolge gibt es zwölf Hoffnungsladen, die Oberon schuf, als die Menschheit noch nicht viel mehr als eine interessante Zerstreuung war. Manche sagen, dass die Laden Geheimnisse, Sterne oder überhaupt nichts enthielten; dass sich in einem das Herz von Faerie verstecke, während die anderen der Ablenkung dienten, oder dass sie eine Karte in sich bargen, die uns zu unserem König und zu unseren Königinnen führen würde, die vermisst werden. Andere behaupten, die Laden enthielten die Schlüssel zu den tiefer gelegenen Gefilden von Faerie, den Orten auf der anderen Seite der Sommerlande. Und hinter verschlossenen Türen munkelt man, dass die Hoffnungsladen einen Schlüssel anderer Art beherbergen: den Schlüssel zur Unsterblichkeit; dass sie in der Lage seien, das Blut eines Wechselbalgs zu verändern und es zu einem Reinblut zu mache n … oder menschlich.
    Hätte mich jemand gefragt, ob es die Hoffnungsladen wirklich gäbe, ich hätte nur gelacht. Doch in jenem Augenblick, in dem ich das Gewicht des Holzes in den Fingern spürte und sich das Brennen in mir ausbreitete, glaubte ich daran, und ich verstand, weshalb Evening sich dafür entschied, lieber den Schlüssel als das eigene Leben zu schützen. Es gibt in Faerie kein Reinblut, das nicht gestorben wäre, um die Sicherheit einer Hoffnungslade zu gewährleisten.
    Meine Hände zogen die Lade an meine Brust, ohne mein Gehirn zu konsultieren, und meine Daumen streichelten über den Deckel. Zum ersten Mal, seit ich aufgewacht war, stellte Evenings Tod das Letzte dar, woran ich dachte. Auf der Welt gab es nur die Hoffnungslade und mich. Beinah glaubte ich, sie mir zuflüstern und mir die Welt anbieten zu hören, wenn ich den Deckel anhöbe und mir ansähe, was die Geschichten uns nicht erzählen. Wenn ich wollte, konnte ich Pandora spielen. Ich konnte die Welt neu gestalten.
    Pandora war eine Idiotin. Ich ließ die Lade fallen und schauderte vor Kälte ebenso sehr wie vor Versuchung. Kaum hatte die Hoffnungslade meine Finger verlassen, da erstarb auch das Brennen. Was immer sie zu verkaufen hatte, ich hatte keinen Bedarf dafür. Ich hatte genug um die Ohren, ohne von magischen Gegenständen drangsaliert zu werden, die eigentlich gar nicht

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