October Daye: Winterfluch (German Edition)
sich auf meinem Rücken und meinen Schultern eiskalt an, aber wenigstens bestand die Möglichkeit, dass es meine Kopfschmerzen etwas linderte. Zumindest hoffte ich das.
Der Schlüssel war das letzte Stück, das noch gefehlt hatte, um die Lage vollkommen frustrierend zu gestalten: ein Mord ohne Motiv, ein Fluch ohne Aufhebung und nun auch noch ein Schlüssel ohne Schloss. Wenn ich alles irgendwie zusammenpacken könnte, wäre ich im Geschäft. Ich bemühte mich trotz der Kopfschmerzen um Konzentration, öffnete die Augen und stieg wieder ins Auto, wo ich den Schlüssel im Licht der Innenbeleuchtung erst einmal genau in Augenschein nehmen konnt e – und wo die Heizung verhindern würde, dass ich erfröre.
Die gewundenen Ranken, aus denen der Kopf und der Griff des Schlüssels bestanden, schienen keiner Logik zu folgen; sie waren wie echte Ranken ineinander verschlungen und sahen aus, als würden sie weiterwachsen, ließe man sie unbeobachtet. Was durchaus möglich war. Ich verengte die Augen und suchte nach der Stelle, an der das Gewirr begann. Die Linien der Metallarbeit wiesen Unterschiede auf, als ich sie eingehend betrachtete. Einige der Ranken stachen mit dunkleren Metallen hervo r – Kupfer, Bronze oder Gol d – , während sich andere in den Hintergrund des Silbergriffs fügten. Ich wählte eine goldgesäumte Ranke und folgte ihr durch ein Geflecht aus graviertem Efeu und Rosenzweigen, bis sie sich hinter einer Dreifachwindung ineinander verschränkter Dornen verlor. Volltreffer.
Die Drei gilt in Faerie als geheiligt. Wir haben drei Höfe und drei Herrscher, den König und die Königinnen, die vermisst werden und die unsere unzähligen Rassen gezeugt haben. Die meisten unserer Legenden besagen, dass es zu jedem Ziel drei Pfade gibt: den schwierigen, den einfachen und den langen. Evening war Traditionalistin. Selbst wenn sie als Mensch auftrat, war ein Teil von ihr nicht gewillt, vollständig zu verstecken, was sie wirklich war, und so lautete ihr menschlicher Name Evelyn Winters und der ihres menschlichen Unternehmens Third Road Enterprises . Sie vermittelte durch die Türen von Third Road ihr Fairiegold und ihre natürlichen Fertigkeiten, und niemandem fiel etwas auf, obwohl der Name davon kündete, was sie verbarg.
Third Road Enterprises , dessen Räumlichkeiten sich zufällig nur ein kurzes Stück von der Stelle entfernt befanden, wo ich den Schlüssel begutachtete, den sie so sorgsam geschützt hatte. Ich glaube aber nicht an Zufälle. Auf dieser Welt geschieht alles aus einem Grund. Tja, nun brauchte ich nur noch ein Schloss zu meinem Schlüssel.
Kapitel 9
T hird Road Enterprises präsentierte sich dunkel, als ich dort ankam. Nach der Uhr auf dem Armaturenbrett würde die Sonne in weniger als einer Stunde aufgehen. Dann träfe vermutlich das Reinigungspersonal ein. Der Rest der Belegschaft mochte erst einige Stunden danach eintrudeln, sofern die Leute überhaupt zur Arbeit erschienen. Schließlich war es zwei Tage vor Weihnachten. Wenn es einen Zeitpunkt gab, zu dem es mir vielleicht gelingen könnte, unbemerkt hinein- und herauszugelangen, dann war es jetzt.
Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele der Menschen, die hier arbeiteten, die nächsten Tage so tun würden, als trauerten sie, bevor sie die Arbeit plötzlich wesentlich angenehmer fanden. Evening war im Umgang mit Menschen noch schlimmer als ich: Sie schloss sie aus, behandelte sie frostig und blieb auf Distanz, während ich sie bloß an mir vorbeiziehen ließ. Mich würden die meisten vergessen, wenn ich wieder verschwand, aber an Evening würden sie sich für immer erinnern: Sie war zu wild, seltsam und schön, um sie zu vergessen.
Die Menschen in jenem Gebäude hätten nie an Evenings wahres Gesicht geglaubt. Sie glaubten, sie zu kennen, aber sie irrten sich. Sie kannten eine Frau, so menschlich wie sie selbst, und ich hätte gewettet, dass niemand von ihnen jemals tiefer geblickt hatte. Das brauchten sie auch nicht, denn in ihrer Welt schob man Märchen beiseite, wenn man die Nachtlichter ausschaltete. Es gibt in der Welt der Menschen heutzutage keinen Platz mehr für uns, dennoch können wir nicht von ihr lassen.
Un d – meine Güt e – wann war ich nur zurück auf das »Wir« verfallen?
Ich ging auf das Gebäude zu und war dankbar, dass es keine Nachtwächter gab. In Anbetracht meines fleckigen und zunehmend schmutzigen Kleides würde mir niemand glauben, dass ich einen guten Grund hatte, mitten in der Nacht ein schickes
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