Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
den Boden gekracht war, rannte ich den Mittelgang entlang zum Vorraum.
Dort angelangt, überlegte ich kurz, ob ich den Chief mit den am Eingang aufgestapelten Gesangbüchern bombardieren sollte, aber da ich Kirchenmusik - vor allem gregorianische Gesänge und Gospelsongs - schätzte und Achtung vor Büchern hatte, beherrschte ich mich.
Die Tür nach draußen, durch die ich vor einigen Stunden mit dem Hund das erste Mal in die Kirche gekommen war, hatte man nachts natürlich abgeschlossen. Ohne Schlüssel war da nichts zu machen.
Zwei weitere Türen führten aus dem Vorraum. Ich riss die eine auf und sah eine nach oben führende Wendeltreppe.
Über die gelangte man wahrscheinlich nur in den Glockenturm, der eine vertikale Sackgasse dargestellt hätte.
Als ich einen Blick ins Kirchenschiff warf, öffnete Chief Hoss Shackett gerade das Tor in der Altarschranke und hinkte in den Mittelgang. Er sah aus wie Kapitän Ahab bei seiner irren Jagd auf den weißen Wal.
Ich nahm den einzigen Ausgang, der mir blieb, knipste das Licht an und stellte fest, dass ich mich in einem überdachten Gang befand, der die Kirche mit irgendeinem Anbau verband, wahrscheinlich dem Gemeindehaus.
An die Wände waren reizende Zeichnungen von Kindern verschiedenen Alters gepinnt, die alle einen lächelnden, bärtigen Mann in weißem Gewand darstellten, bei dem es sich des Heiligenscheins wegen um Jesus handeln musste. Der unzulänglich, aber mit ernsthaftem Bemühen dargestellte Sohn Gottes war mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt, von denen in der Bibel, soweit ich mich erinnerte, nicht die Rede war.
Mit erhobenen Händen verwandelte Jesus einen Bombenregen in Blumen. Lächelnd drohte Jesus einer schwangeren Frau, die gerade eine Flasche Bier trinken wollte, mit dem Finger. Jesus rettete einen gestrandeten Eisbären von einer Eisscholle. Jesus richtete einen Flammenwerfer auf einen Stapel Pappkartons, auf denen ZIGARETTEN stand.
Neben einer Zeichnung von Jesus, der seine Wunderkräfte dazu verwendete, die Kuchen- und Keks-Sammlung eines übergewichtigen Jungen in Tofu-Packungen zu verwandeln, führte die nächsten Tür in einen Flur. Durch die offenen Türen sah ich Räume, die wohl für die Sonntagsschule und andere Aktivitäten genutzt wurden.
Als von diesem Flur ein zweiter, wesentlich längerer abging, sah ich an dessen anderem Ende eine Tür, die nach drau
ßen führen musste. Ich lief so hastig darauf zu wie Jesus, der Leute aus dem Tempel verjagte, die in Textilfabriken mit einer Vorliebe für Polyester und andere unnatürliche Materialien arbeiteten.
Die Tür war abgesperrt, konnte aber von innen entriegelt werden. Durch das in der oberen Hälfte eingesetzte Fenster blickte ich in den Nebel hinaus, der von einer Neonlampe erleuchtet war. Verglichen mit dem, wovor ich gerade geflohen war, kam er mir regelrecht gemütlich vor. Ich wollte schon die Tür öffnen, als sich ein Kojote auf die Hinterbeine stellte, die Vorderpfoten an die Tür legte und mich durch eine der vier Glasscheiben hindurch beäugte.
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Als ich mich zum Fenster in der Tür beugte, um festzustellen, ob ich es - gewissermaßen - mit einem einsamen Wolf zu tun hatte oder mit einem Rudel, bleckte der Kojote seine ebenso fleckigen wie schartigen Zähne. Anschließend leckte das Biest über die Glasscheibe, als wäre ich eine leckere Süßigkeit in einem Verkaufsautomaten, für dessen Benutzung ihm das Kleingeld fehlte.
Am Boden wimmelte es im Nebel von leuchtend gelben Augen. Ihrer Anzahl nach zu urteilen, waren da mehr Kojoten versammelt, als ich zählen wollte. Schon richtete ein zweites Exemplar sich frech an der Tür auf, und das Rudel hinter den beiden Anführern wuselte aufgeregter durcheinander. Dennoch blieb es gespenstisch still.
In dem Park am Hekate-Canyon hatte Annamaria mir erklärt, die uns bedrohenden Kojoten seien nicht nur das, wonach sie aussähen. Sie hatte ihnen gesagt, wir würden ihnen nicht gehören und sie müssten sich davonmachen - was sie auch getan hatten.
Obwohl man mir also gesagt hatte, ich hätte nichts von den Tieren zu befürchten und müsste nur mutig sein, fühlte ich mich nicht in der Lage, so mutig zu sein wie diese Kojoten. Schließlich besaßen sie die Frechheit, einen Mann zu bedrohen, der sich auf kirchliches Gelände geflüchtet hatte.
Außerdem wusste Annamaria etwas über die Biester, was
ich nicht wusste. Dieses Wissen machte sie mutig, während mein mangelndes Wissen womöglich meinen Tod bedeutete.
Hastig zog
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