Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Dabei schärfte ich mir ein, nicht auf meine Füße zu blicken, sondern auf den Balken vor mir, wo meine Füße hintreten sollten.
Bebendes Licht malte imaginäre Wellen auf den Balken und die Pfosten ringsum. Unwillkürlich stieg das Gefühl in mir auf, dass ich jeden Moment heruntergespült werden konnte.
So hoch über dem Meer und direkt unterhalb des Piers war der Geruch von Holzschutzmittel unerträglich. Ich spürte ein Brennen in den Nebenhöhlen und der Kehle. Als ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen fuhr, schien sich darauf der Geschmack von Kohlenteer abgesetzt zu haben.
Ich blieb stehen und schloss kurz die Augen, um die hüpfenden Lichtreflexe loszuwerden. Mit angehaltenem Atem kämpfte ich gegen den Schwindel an, und erst als ich ihn losgeworden war, schritt ich weiter.
Als ich die Hälfte des Balkens hinter mir gelassen hatte, sah ich, dass dieser sich dort mit einem anderen Balken kreuzte, der längs unter dem Pier entlanglief.
Der Außenbordmotor war noch lauter geworden, hatte sich also noch weiter genähert. Doch bis jetzt war das Boot nicht in mein Blickfeld gekommen.
Ich trat auf den Längsbalken und wandte mich dem Ufer zu. Auf dem schmalen Pfad einen Fuß vor den anderen setzend, war ich zwar bei weitem nicht so flink wie ein Tänzer, der leichtfüßig über die Bühne eilt, aber Fortschritte machte ich doch.
Allerdings waren meine Jeans für die notwendigen Bewegungen nicht so gut geeignet wie eine Strumpfhose. Sie waren genau da eng, wo zu viel Enge meine Stimme in ein permanentes Falsett verwandelt hätte.
Ich kam zu einer weiteren Balkenkreuzung, ging geradeaus weiter und überlegte, ob ich auf diesem Weg wohl bis ans Ufer gelangen konnte.
Hinter mir wurde das Geräusch des Außenbordmotors immer lauter. Neben dem Tuckern hörte ich die von dem Boot erzeugten Wellen sechs Meter unter mir an die Betonpfeiler klatschen. Das wies nicht nur darauf hin, dass das Boot inzwischen schneller fuhr, sondern auch, dass es nun nicht mehr weit entfernt war.
Als ich mich der nächsten Kreuzung näherte, erblickte ich schräg unter mir zwei leuchtend rote Augen und hielt unwillkürlich inne. Das flackernde Licht strich trügerisch über das Ding, dem die Augen gehörten, und da sah ich, dass genau an der Stelle, wo die zwei Balken zusammenliefen, eine Ratte hockte.
Ich habe nichts gegen Ratten. Allerdings bin ich auch nicht so tolerant, dass ich ein ganzes Rudel in meiner Wohnung durchfüttern würde.
Durch mein Erscheinen war das Tierchen offenbar wie gelähmt. Wenn ich auf es zutrat, hatte es drei Routen zur Auswahl, auf denen es flüchten konnte.
In stressigen Momenten kann meine Fantasie so ausufernd sein, als wäre sie ein mit grotesken Biestern bestücktes Karussell,
das aufrecht steht wie ein Riesenrad und wirbelnd Visionen von haarsträubenden Katastrophen und drolligen Todesarten in die Gegend schleudert.
Die Ratte vor Augen, entwickelte sich deshalb in meinem Kopf ein Szenario, bei dem ich das Tier so erschreckte, dass es vor Panik auf mich zurannte, in eines meiner Hosenbeine kletterte, sich an meinem Schienbein hocharbeitete, am Knie nach hinten wuselte und sich dann an meinem Oberschenkel vorbeiquetschte, um sich schließlich zwischen meinen Pobacken häuslich niederzulassen. Während des ganzen Vorgangs würde ich mit den Armen rudern und auf einem Bein hüpfen, bis ich vom Balken rutschte und, das unglückselige Nagetier noch in der Hose, gerade rechtzeitig Richtung Meer stürzte, um kopfüber in das nahende Boot zu krachen, mit meinem Schädel ein Loch in dessen Boden zu schlagen und mir dadurch gleichzeitig den Hals zu brechen und zu ersaufen.
Man könnte meinen, dass ich mir meinen Namen ehrlich verdient habe, aber ich heiße schon immer so.
Der Lärm des Außenborders sägte sich durch die Stützpfosten und erzeugte einen Widerhall, der sich so oft vervielfachte, dass es sich anhörte, als wäre eine ganze Schar von Holzfällern damit beschäftigt, den Pier zu Fall zu bringen.
Als ich endlich einen Schritt auf die Ratte zu machte, wich das Tier kein Stück zurück. Da mir nichts Besseres einfiel, machte ich einen weiteren Schritt, blieb dann jedoch stehen, weil der Motorenlärm plötzlich regelrecht explodierte.
Ich wagte einen Blick hinunter. Ein Schlauchboot fuhr unter mir vorbei. Seine schwarze Gummihaut glänzte im Flutlicht.
Der Fleischberg im Hawaiihemd hockte auf der hinteren von zwei Bänken, eine Hand an der Pinne des Motors.
Er steuerte das Boot so
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