Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
gekonnt, dass es sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit zwischen den Betonpfeilern hindurchschlängelte.
Auf beiden Seitenwülsten des Boots war in großen gelben Lettern der Schriftzug der Hafenmeisterei von Magic Beach angebracht. Offenbar war das Ding am Pier vertäut gewesen, und der Kerl hatte es einfach geklaut, um nach mir zu suchen.
Erstaunlicherweise hob er nicht den Kopf, während er unter mir hindurchfuhr. Auch eine der Stablampen, die in einem solchen Dienstfahrzeug vorhanden sein mussten, hatte er nicht hervorgeholt, um sie nach oben zu richten.
Das Schlauchboot verschwand zwischen den Säulenreihen, und das Motorengeräusch wurde allmählich leiser. Bald hatte das wogende Meer das entstandene Kielwasser glattgebügelt.
Eigentlich hätte ich drei Männer im Boot erwartet. Ich fragte mich, was wohl aus den beiden kaltäugigen Rotschöpfen geworden war.
Auch die andere Ratte war verschwunden, glücklicherweise nicht in mein Hosenbein.
Mit tänzerischer Anmut setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich auf der Balkenkreuzung angekommen war, auf der die Ratte gesessen hatte. Ich wollte weitergehen, hielt jedoch unwillkürlich inne.
Da mein Verfolger sich nun zwischen mir und dem Strand befand, kam es mir nicht mehr klug vor, mich in diese Richtung zu bewegen.
Irgendwie hatte die Atmosphäre sich verändert. Bisher hatte mich ein überwältigendes Gefühl der Gefahr, die Vorstellung, in der tödlichen Flugbahn einer Kugel zu stehen, in die Flucht getrieben. Nun kam mir mein baldiger Tod zwar
noch genauso möglich vor wie vor dem Auftauchen des Schlauchboots, aber irgendwie schien er nicht mehr so rasch zu drohen.
Anders gesagt: Die Lage fühlte sich zwar noch gefährlich, aber nicht mehr so bedrohlich an. Sie war geprägt von Unsicherheit und der Tyrannei des Zufalls. Falls eine Kugel heranflog, konnte ich bloß hoffen, ihr auszuweichen, allerdings konnte mir das gelingen, wenn ich die richtige Bewegung machte.
Ich schaute links, geradeaus, rechts an den waagrechten Balken entlang, blickte über die Schulter nach hinten, in das vom Flutlicht erhellte Meer hinab. Ich hob den Kopf und betrachtete die Unterseite des Piers, wo die tanzenden Wellen sich in Lichtgebilde verwandelten, die zuckend anschwollen und schrumpften, als folgten sie einer durch die Holzkonstruktion vorgegebenen Choreographie.
Inzwischen kam ich mir so unentschlossen vor wie der Pöbel im zweiten Teil von Shakespeares Drama Heinrich VI. , der wiederholt zwischen dem Rebellen Jack Cade und dem rechtmäßigen König schwankt.
Schon wieder Shakespeare. Sobald man ihn in den Kopf ließ, nistete er sich dort ein und weigerte sich, wieder auszuziehen.
Inzwischen war das Geräusch des Außenbordmotors allmählich leiser geworden. Nun verstummte es plötzlich ganz.
Vorübergehend kam die Stille mir vollkommen vor. Dann hallte das wortlose Wispern und Murmeln des Meeres von den mich umgebenden Oberflächen wider.
In der kurzen Zeit, die seit dem Vorbeifahren des Schlauchboots vergangen war, konnte das Ding unmöglich bis zum Strand gelangt sein. Wahrscheinlich hatte es kaum mehr als den halben Weg zurückgelegt.
Bestimmt überließ der Kerl an der Pinne das Boot nicht den Wellen, die es von einem Pfeiler zum anderen gestoßen hätten. Er hatte es also irgendwo angebunden.
Das jedoch hätte er nicht getan, wenn er nicht aussteigen wollte. Wahrscheinlich kletterte er bereits irgendwo da vorn an einem Pfosten hoch.
Nun glaubte ich auch zu wissen, wo sich die rothaarigen Brüder befanden. Ich blickte über meine Schulter auf das Labyrinth aus Pfosten und Balken hinter mir. Noch waren die beiden nicht in Sicht.
Einer vor mir, zwei hinter mir. Wie die Kiefer eines Nussknackers.
4
Während ich zögernd an der Kreuzung der waagrechten Balken stand, tauchte rechts von mir eine bleiche Gestalt auf.
Weil mir gelegentlich unerwartet Geister erscheinen, ohne Rücksicht auf meine Nerven zu nehmen, bin ich nicht so leicht zu erschrecken. Auch jetzt geriet ich zwar ins Schwanken, stürzte jedoch nicht ab.
Die Erscheinung entpuppte sich als Boo, mein braver Hund, der früher als Maskottchen des Klosters in den Bergen fungiert hatte, wo ich eine Weile zu Gast gewesen war.
Sehen konnte ihn niemand außer mir, und keine Hand außer meiner hätte ihn ertastet. In meinen Augen jedoch strich der schimmernde Widerschein der Wellen über seine Flanken und sein Gesicht, als wäre er genauso körperhaft gewesen wie ich.
Obwohl er mitten in der
Weitere Kostenlose Bücher