Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
nach unserer Großmutter mütterlicherseits - Melvina Belmont Singleton - benannt, die zu ihrer Zeit ziemlich berühmt war.«
»Berühmt? Weshalb?«
»Weil sie mit Gorillas zusammenlebte.«
»Mit welchen Gorillas denn?«
»Ach, überall, wo es Gorillas gab, ist sie früher oder später hingereist, um mit ihnen zusammenzuleben.«
»Sie war also Naturforscherin oder Anthropologin?«
»Nein, nichts in der Richtung. Sie war einfach total begeistert von Gorillas und hat gar nicht genug davon bekommen, sie zu beobachten. Die Gorillas hat das offenbar nicht gestört.«
»Das wundert mich aber«, sagte Annamaria.
»Tja, wenn Wissenschaftler kommen, um sie zu studieren, dann werden die Gorillas manchmal ziemlich ruppig, aber gegen meine Oma hatten sie nichts.«
»Sie muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein.«
»In unserer Familie gibt es starke Frauen«, sagte Blossom.
»Das sehe ich«, sagte Annamaria, und die beiden lächelten einander zu.
»Einem Gorilla namens Percy«, erzählte Blossom, »hat meine Oma beigebracht, Gedichte zu schreiben.«
»Freie Verse, nehme ich an.«
»Veröffentlicht hätte die niemand«, sagte Blossom. Die beiden lachten.
Ich hätte gern mehr über diese Großmutter und die Gorillas gehört, aber ich musste erst einmal ein ernstes Gespräch mit dem Lampenmann führen. Blossom und Annamaria amüsierten sich so gut miteinander, dass ich sie nicht bei ihrer Unterhaltung störte, um ihnen mitzuteilen, ihr Odysseus habe seine Segel gehisst.
Als ich durchs Wohnzimmer ging, fiel mir auf, dass die Uhr auf dem Kaminsims eine Minute vor Mitternacht anzeigte.
Laut meiner Armbanduhr war es erst acht vor acht.
Ich trat zum Kamin, um an der Uhr zu horchen, aber die schien ihren Zeitvorrat verbraucht zu haben. Sie gab kein einziges Ticken von sich.
Im bisherigen Verlauf meines Lebens hatte ich übernatürliche Erscheinungen immer durch meine paranormalen Sinne wahrgenommen, die sonst niemand besaß. Dazu gehörten die Fähigkeit, die zögerlichen Geister von Toten zu sehen, meine frustrierenden Träume mit kryptischen Vorahnungen und mein übersinnlicher Magnetismus.
Die stehengebliebene Uhr in Annamarias Wohnung war keine Vision gewesen, sondern eine Realität. Nicht nur ich hatte sie sehen können, sondern Annamaria ebenfalls. Wenn ich nun sie und Blossom aus der Küche herbeigerufen hätte, dann hätten die beiden auf dem Kaminsims zweifellos dasselbe gesehen wie ich.
Eine einzelne Uhr, die eine Minute vor Mitternacht stehengeblieben war, hätte nichts anderes als eine defekte Uhr dargestellt. In dieser Nacht voller Nebel, verzauberter Kojoten und Schaukelbänken, die von selbst schaukelten, musste es aber eine tiefere Bedeutung haben, wenn ich zwei Uhren sah, deren Zeiger in genau derselben Position eingefroren waren.
Das Übernatürliche war auf eine Art und Weise in die normale Welt eingedrungen, die mir neu war, und diese Entwicklung kam mir unheilvoll vor.
Mir fiel nur eine Interpretation für die beiden synchron stehengebliebenen Uhren ein: Es blieben mir kaum mehr als vier Stunden, um den Tod vieler Menschen und die katastrophale Zerstörung zu verhindern, die von dem gelbäugigen Muskelberg und seinen Spießgesellen geplant wurden.
20
Eine durch glühende Luft herabsteigende Taube, ein in Flammen aufgehender Busch, aus dem eine Stimme kommt, Sterne, die ihre zeitlose Konstellation aufgeben, um neue, bedeutungsvolle Muster am Himmel zu bilden …
Das waren einige der Zeichen, auf denen Propheten früherer Zeiten ihre Vorhersagen und Handlungen basieren ließen. Ich hingegen hatte zwei stehengebliebene Uhren vorgesetzt bekommen.
Falls ich nicht nur eine merkwürdige Erscheinung darstelle, deren außersinnliche Wahrnehmungen auf ein paar mutierte Synapsen zurückzuführen sind, die im Gehirn seltsame Verbindungen herstellen - falls meine Gabe also nicht nur eine Laune der Natur, sondern mit Sinn und Zweck verbunden ist, dann muss der für meinen Etat zuständige Engel mit äußerst mäßigen Mitteln auskommen.
Während ich durch die Stadt zu der Adresse ging, die ich in der Geldbörse von Sam Whittle - alias Sam Bittel, von mir liebevoll als Lampenmann bezeichnet - gefunden hatte, kam es mir vor, als wäre der alles überschwemmende Nebel bis in meinen Kopf geflutet. Wegen dieses inneren Dunstes waren meine Gedanken so unzusammenhängend wie die Häuser, die, einander fremd, wie Inseln in einem weißen Meer zu schwimmen schienen.
Inzwischen rollte mehr Verkehr
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