Oder sie stirbt
spürte, wie zugeschnürt meine Kehle auf einmal war. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen.«
»Sie können«, antwortete sie. »Ich sehe in Ihrem Gesicht.« Sie zupfte an der losen Haut an ihrem Hals. »Ein Freund von mir zu Hause …« Sie deutete vage Richtung Atlantik, »… hat seine Frau wegen Lou-Gehrig-Krankheit verloren. Eine Cousine von meine Cousine hat ihre Tochter und zwei Enkel bei Flugzeugabsturz vor fünf Jahre verloren. Dieses Jahr an Geburtstag fragt mein Cousin: ›Wie kannst du aushalten?‹ Und sie sagt: ›Jeder hat seine Geschichte.‹ Und das stimmt. Bevor wir gehen, jeder hat eine traurige Geschichte zu erzählen. Aber dieses Kind, dieses Kind …« Sie stand abrupt auf, ging zu einer der geschlossenen Türen am anderen Ende des Zimmers und legte die Hand auf den Türknauf. »Kommen Sie, sehen Sie dieses schöne Kind. Ich wecke sie. Kommen Sie sehen, und sagen Sie, wie ich ihr erkläre, dass das ihre Geschichte ist.«
»Nein, bitte. Stören Sie sie bitte nicht. Lassen Sie sie schlafen.«
Elisabeta kam zurück und ließ sich auf den Sessel sinken. »Und jetzt will mich jemand töten. Und warum? Wer wird sich um sie kümmern? Sie wird allein sein und sterben.«
»Haben Sie keine … sind Sie krankenversichert?«
»Wir sind nahe an Maximum für Lebenszeit, so sagen sie. Ich treffe mich mit – wie heißt das? – mit eine Komitee im Krankenhaus. Sie sind bereit für eine Spende für OP . Aber zwischen großer Spende und dem Rest von unsere Versicherung ist immer noch mehr, als ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Was soll ich machen?«
Meine Stimme zitterte vor Aufregung. »Wie viel fehlt noch?«
»Mehr, als Sie vorstellen können.«
Ich beugte mich vor, legte die Hände auf den Tisch und stieß gegen die Schale mit den Nüssen. »Wie viel genau?«
Sie stand auf und ging in die Küche. Eine Schublade wurde geöffnet, ich hörte das Besteck klappern. Dann eine zweite Schublade. Sie wühlte sich dem Geräusch nach durch ein Bündel Papiere, bis sie schließlich mit einem Blatt zurückkam. Sie wedelte damit, als wäre es ein königliches Edikt. »Siebenundzwanzigtausendzweihundertzweiundvierzig Dollar.« Ihr Mund verzog sich zu einem Schluchzen, doch sie fing sich gerade noch und rettete sich in einen verächtlichen Gesichtsausdruck.
»Niemand will Ihnen etwas Böses tun. Ich hab das missverstanden.« Es schnürte mir derart die Kehle zu, dass ich mich unterbrechen musste. Ich senkte den Kopf und sprach ein stummes Dankgebet. Dann ging ich zu der Frau und stellte die Tasche vor ihren Füßen auf den Boden.
Schockiert starrte sie mich an.
»Das ist für Sie«, erklärte ich.
Dann zog ich meine Nikes wieder an und ging. Behutsam schloss ich die Fliegengittertür hinter mir, um das Mädchen nicht zu wecken.
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30
I ch war wieder aufgestanden und ging ruhelos auf und ab. Ariana saß einfach nur auf ihrem Gartenstuhl und hörte mir mit großen Augen zu. Sie hatte die Knie an die Brust gepresst und das Sweatshirt drübergezogen, darüber trug sie ihren offenen Parka. Es regnete nicht, aber man spürte trotzdem winzige Tröpfchen in der Luft. Es war zwei Uhr morgens, und mein Puls wollte sich immer noch nicht beruhigen. »Erst diese Angst, und dann die Erleichterung – sogar Dankbarkeit, verdammt noch mal. Aber dann fängt alles wieder von vorne an. Wie bei einer Droge. Ich halte das nicht aus. Und es ist mir
egal,
dass es diesmal geklappt hat …«
»Das wissen wir doch nicht mal«, wandte Ariana ein.
»Wie meinst du das?«
»Du hast einer Frau in Indio Geld gebracht. Was, wenn das alles ein Schwindel war?«
»Wie denn? Es war doch nicht unser Geld. Ich hab bloß den Weihnachtsmann gespielt.«
»Ich hab ja auch nicht gesagt, dass du das Opfer der Schwindler warst.« Sie wartete, um ihre Worte wirken zu lassen. »Was passiert, wenn jemand auf der Schwelle dieser Frau auftaucht und einen Gefallen von ihr einfordert? Ein Gefallen, den sie ihm schuldig ist?«
»
Ich
habe ihr aber das Geld gegeben.«
»Aber es war nicht dein Geld. Dir schuldet sie gar nichts.«
Die Übelkeit sickerte peu à peu in meinen Magen wie Eiswasser. Langsam ließ ich mich Ari gegenüber auf den anderen Stuhl sinken. Ich konnte ihr ansehen, wie mies sie sich fühlte. Sie wühlte in ihrer Handtasche und fischte eine Rolle Tabletten gegen Sodbrennen heraus. Diese Handtasche war wie der Schlund des Weißen Hais – sie konnte jederzeit eine Sonnenbrille, einen neuen Lippenstift oder ein
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