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Oder sie stirbt

Oder sie stirbt

Titel: Oder sie stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregg Hurwitz
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tiefer an als der andere, und auf ihrem Kleid prangte vorn ein lila Fleck. Die Person, die sie für das Foto hergerichtet hatte, hätte sicher keine Freude an diesem Bild gehabt. Auf dem Rahmen klebte ein Chiquita-Aufkleber – was zum Teufel sollte das mit den Bananen überall? Ich zwang mich, meinen Blick wieder auf die Frau zu richten. Sie trug einen schlichten goldenen Ehering, aber irgendwie wusste ich, dass ihr Mann schon tot war. Ihre Trauer war unübersehbar, ebenso wie ihre Freundlichkeit, die in dem kleinen Lächeln lag, mit dem sie mir die Nüsse hingestellt hatte. Ich hätte alles getan, um ihr Kummer zu ersparen.
    »Man hat mir mitgeteilt, dass Sie in Gefahr sein könnten«, fuhr ich fort.
    Sie keuchte auf und legte die Hand an ihre klobige Kette. »Gefahr? Jemand bedroht mich?«
    »Ich … ich glaube schon. Man hat mir gesagt, dass ich zu Ihnen fahren soll. Weil Sie sonst nämlich sterben würden.«
    »Aber wer soll mich töten?« Aus ihrem Munde hörte es sich so an wie »teeten«. »Werden Sie mir etwas tun?«
    »Nein, ich …
nein!
Ich will Ihnen überhaupt nichts tun.«
    Obwohl sie sichtlich aufgewühlt war, sprach sie leise weiter. »Ich bin ungarische Großmutter. Ich bin Kellnerin in schlechte Restaurant. Wem tue ich böse? Wem habe ich etwas getan?«
    Ich beugte mich vor, als wollte ich aufstehen. Was sollte ich tun? Sie tröstend in den Arm nehmen?
    »Es tut mir leid, dass Sie sich meinetwegen so aufregen. Ich … also schauen Sie, jetzt bin ich hier, und wir finden zusammen heraus, was das alles soll, und bringen es in Ordnung. Ich bin gekommen, weil ich Ihnen helfen will.«
    Sie zerknüllte ein Kleenex in der Hand und führte es an ihre zitternden Lippen. »Helfen mit was?«
    »Ich weiß nicht. Man hat mir einfach nur gesagt …« Ich suchte verzweifelt nach dem richtigen Ansatzpunkt. »Ich heiße Patrick Davis. Ich bin Lehrer. Wie heißen Sie?«
    »Elisabeta.«
    »Sind Sie …« Ich griff nach dem Strohhalm und deutete auf das Foto. »Ist das Ihre Tochter?«
    »Enkelin.« Sie konnte es nicht aussprechen, ohne dass sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen stahl. Doch im nächsten Moment sah sie wieder genauso verstört aus wie zuvor. »Mein Sohn in Gefängnis, weil er verkauft …« Sie deutete pantomimisch an, wie sie sich etwas in die Armbeuge spritzte. Ihre Hände mit den gepflegten, glänzenden Nägeln waren überraschend hübsch – da war wieder diese stille Würde, ein Stolz, der sich seltsamerweise eher wie Demut ausnahm. »Seine Frau geht zurück nach Debrecen.« Sie deutete auf das Foto. »Also bekomme ich. Mein kleiner Schatz.«
    Jetzt kapierte ich auch, warum sie so leise redete. »Sie schläft gerade.«
    »Ja.«
    »Warum …?«, begann ich und sah mich um. »Warum sind hier so viele Bananen?«
    »Es geht ihr nicht gut. Sie nimmt viel Tablette, damit sie Extraflüssigkeit urinieren kann. Zu wenig Pottasche, sagen die Ärzte. Und die Bananen – das ist unser Spiel. Wenn sie alle Pottasche aus Bananen kriegt, muss sie eine weniger Tablette nehmen.« Sie schüttelte ihre magere Faust. »Heute wieder eine weniger.«
    Mein Pulsschlag ging etwas schneller. SIE BRAUCHT IHRE HILFE . Aber wie sollte ich ihr helfen?
    »Was ist denn mit ihr?«, erkundigte ich mich.
    »Sie hatte Operation mit drei. Letzte Monat merke ich, ihre Schuhe passen nicht. Geschwollen …« Sie machte eine kreisende Handbewegung. »Dann mit Atmen …« Sie ahmte Kurzatmigkeit nach. »… auf dem Spielplatz. Ja, ist wieder Herzklappe. Sie braucht neu. Aber kostet ein paar hunderttausend Dollar. Ich kann nicht leisten. Ich bin Kellnerin. Ich habe schon zweite Hypothek auf dieses Haus für die erste Operation. Sie geht kaputt. Die Herzklappe …« Sie spuckte das Wort förmlich hervor. »Morgen oder nächste Woche oder nächste Monat geht kaputt.«
    Die Tasche stand nur wenige Zentimeter neben mir, direkt an meinem Schuh. Was sollten 27 000  Dollar nutzen, wenn diese Frau doch eine wesentlich höhere Summe brauchte?
    Nach der schrecklichen Herfahrt war ich noch viel schlimmer neben der Spur als zuvor. Ich schwankte zwischen Grauen und Erleichterung, Angst und Sorge, und wusste eigentlich kaum mehr, wo vorne und hinten war.
    Das Mädchen starrte mich von dem Foto an, und erst jetzt fiel mir auf, dass sie die Locken von ihrer Großmutter hatte. Was für verzweifelte Gespräche sie hier schon geführt haben mussten. Wie erklärt man einer Sechsjährigen, dass ihr Herz versagen könnte? Ich schluckte und

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