Oder sie stirbt
dem eingebauten Peilsender ihnen verrieten, wie nah ich schon am Ziel war.
Schließlich fand ich wie durch ein Wunder die richtige Straße, eine Reihe von Fertighäusern rund um einen Wendehammer. Am Ende stand das Haus, das auf dem Foto zu sehen gewesen war. Es war leicht von der Straße abgewandt, als wollte es die Privatsphäre oder auch die Einsamkeit seiner Bewohner betonen.
Ich parkte ein gutes Stück davon entfernt und stieg aus. Der Riemen der Tasche schnitt mir in die Schulter, das Red-Sox-Käppi hatte ich mir wie zum Schutz tief in die Stirn gezogen. Es war 21.28 Uhr. Ich hatte ganz vergessen, wie saukalt es im Winter in der Wüste war. Kalt genug, dass einem der Schweiß auf dem Rücken gefrieren konnte.
Während ich auf das Haus zuging, raschelten trockene Blätter unter meinen Füßen. Vom Hausinneren konnte ich nichts sehen, da die Jalousien heruntergelassen waren, aber das bläuliche Flackern eines Fernsehapparats drang durch die Ritzen. Trotz der relativ frühen Uhrzeit lagen die anderen Häuser so still da, als wäre es mindestens Mitternacht. Überall schwarze Fenster. In dieser Arbeitersiedlung ging man offensichtlich früh zu Bett.
Ich hatte keine Zeit, vorher noch kurz durch ein Fenster zu spähen oder die Gegend zu inspizieren. Was auch immer dort drin auf mich warten mochte – eine gefesselte Frau, eine Truppe von Entführern, die auf ihren Zigarren herumkauten, eine DVD mit dem nächsten rätselhaften Puzzleteilchen – ich würde mich ihm stellen. Bevor mir die Nerven versagen konnten, nahm ich die zwei Stufen der hölzernen Vortreppe, öffnete die Fliegengittertür und klopfte leicht.
Geräusche von drinnen. Schritte. Dann ging knarrend die Tür auf.
Die Frau. Ich erkannte sie an ihrem dunklen Lockenkopf wieder, der von grauen Fäden durchzogen war. Sie war Ausländerin. Ich hätte nicht sagen können, woran ich es merkte, aber irgendetwas in ihren Gesichtszügen und ihrer Art verriet, dass sie aus Osteuropa stammte. Ihre Lider waren geschwollen, übersät von kleinen Hautschuppen und rotgerändert von Erschöpfung oder Tränen. Sie verkörperte einen ganz bestimmten Typus mit ihren kummervollen Augen, den hässlichen Gesichtszügen, der ganz leichten Hakennase und ihrer Größe von ungefähr 1 , 55 Meter. Eine bemerkenswerte Augenfarbe, kristallblau und fast durchscheinend. Sie sah aus wie sechzig, aber ich schätzte, dass sie in Wirklichkeit jünger war und nur durch Erschöpfung und Kummer so früh gealtert war.
»Sie sind also gekommen«, stellte sie fest. Ich konnte ihren starken Akzent nicht einordnen.
»Und Ihnen ist nichts passiert«, stotterte ich.
Wir sahen einander an. Ich nahm die Tasche von der Schulter. Hinter ihr sah ich das kleine Wohnzimmer, das offenbar leer war. »Kommen Sie herein«, bat sie.
Ich trat ein.
»Bitte«, sagte sie, »Schuhe aus.« Mit ihrem Akzent klang es wie »Schuhe ohs«.
Ich gehorchte und stellte die Nikes auf ein Handtuch, das neben der Tür lag. Die bescheidene Behausung wurde mit großem Stolz gepflegt. Auf einem Bücherregal aus Rattan standen tadellos abgestaubte Porzellankatzen und Schneekugeln aus diversen amerikanischen Städten. Durch die offene Tür des winzigen Badezimmers sah ich eine Kerze auf einem Wandleuchter flackern. Sogar die Couch wirkte wie neu. Seltsamerweise stand auf dem Wohnzimmertisch ein Teller mit drei oder vier Bananenschalen, von denen sich die untersten bereits braun verfärbt hatten.
Sie deutete aufs Sofa, und ich setzte mich. Nachdem sie mir eine Schüssel mit Cashewkernen und einen Teller Mandarinen hingestellt hatte, setzte sie sich auf einen Sessel und schob ihr Strickzeug beiseite. Verlegen starrten wir uns an.
»Ich bekomme E-Mail«, erklärte sie. »Sie haben gesagt, Mann kommt mit Red-Sox-Hut. Und ich muss treffen.« Aus irgendeinem Grund sprach sie mit gedämpfter Stimme, was ich unwillkürlich nachahmte.
»Haben Sie DVD s bekommen?«
» DVD ?« Sie runzelte die Stirn. »Film? Nein. Ich verstehe nicht. Warum kommen Sie?«
Ich sah mich um und machte mich auf alles Mögliche gefasst – eine Bombe, einen gewalttätigen Sohn, ein SWAT -Team. Auf der Mikrowelle lagen noch drei Bündel Bananen. Neben den Cashewkernen stand ein Foto von einem Schulmädchen von vielleicht sechs Jahren, das ein fröhliches Lächeln heuchelte. Krauses braunes Haar und eine große Zahnlücke. Sie trug ein Hängerkleidchen, dessen Karomuster an italienische Tischdecken erinnerte. Einer ihrer Zöpfe setzte etwas
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