Oder sie stirbt
rote Linie begann an der nächsten Auffahrt zum Freeway, schlängelte sich ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer in östlicher Richtung und endete schließlich in Indio, einer heruntergekommenen Wüstenstadt östlich von Palm Springs. Ein kleines Blatt Papier mit einer Adresse – zweifellos aus meinem eigenen Drucker – war neben der Endstation aufgeklebt. Darunter stand
21.30
Uhr.
Wenn ich nicht in einen Stau geriet, würde ich es bis dahin schaffen. Genau so hatten sie es geplant: Ich hatte immer gerade eben genug Zeit, um zu reagieren.
Ein Jeep fuhr über den Parkplatz, und ich zog rasch den Reißverschluss zu. Einen Moment blieb ich so sitzen, die Hände am Lenkrad. Dann rief ich Ariana von meinem schäbigen Prepaidhandy an. Das Telefon, das ich für sie besorgt hatte, schaltete sofort auf Voicemail, also wählte ich ihre Büronummer. Die wurde höchstwahrscheinlich auch abgehört, aber ich wusste nicht, wie ich sie sonst erreichen sollte.
»Ich komme heute erst spät nach Hause«, begann ich vorsichtig.
»Ach ja?«, kam es zurück. Im Hintergrund hörte man das Jaulen einer Drehmaschine. Irgendjemand rief ihr etwas zu, und sie antwortete nervös: »Kleinen Moment.« Dann wandte sie sich wieder an mich: »Was gibt’s denn?«
Hatte sie vergessen, dass wir nur auf den Prepaidhandys offen sprechen konnten?
»Ich muss … ich muss ein paar Dinge erledigen.«
»Jetzt, wo wir gerade wieder ein bisschen zur Normalität zurückkehren, fängst du wieder damit an? Schon wieder zwei Filmvorführungen nach der Arbeit? Alles, bloß nicht nach Hause kommen?«
Schauspielerte sie gerade, weil wir auf einer abhörbaren Leitung sprachen? Und wenn ja, wie konnte ich ihr signalisieren, dass ich wirklich ein Problem hatte?
»So ist es nicht«, antwortete ich lahm.
»Schönen Abend noch, Patrick.« Sie legte abrupt auf.
Ich starrte auf mein Telefon und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
Wenige Sekunden später begann es zu vibrieren, und ich nahm ab. An der schlechten Verbindung hörte ich sofort, dass sie von ihrem Billighandy anrief. »Hallo, Schatz«, begrüßte sie mich.
Ich atmete erleichtert aus und erkannte mal wieder, dass ich den Scharfsinn meiner Frau nicht unterschätzen durfte.
»Was ist los?«, wollte sie wissen.
Ich erzählte ihr alles.
»Um Gottes willen«, sagte sie. »Das könnte alles Mögliche sein. Lösegeld. Eine Geldwäscheaktion. Ein Drogendeal. Es könnte sogar sein, dass du deinen eigenen Auftragskiller bezahlst.«
»Ich muss …« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »… ich hätte schon vor fünf Minuten losfahren müssen. Ich hab keine Zeit mehr.«
Jemand rief irgendetwas im Hintergrund, dann hörte ich ihre Schritte, und es wurde ein bisschen leiser. »Was hast du vor?«
Ich klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete das Foto, das uns auf unserer Collegefeier zeigte. Die glatten roten Wangen. Alle Zeit der Welt hatten wir vor uns. Keine Sorgen, außer dass eine Vorlesung zu früh anfing oder wir kein Geld für ein ordentliches Bier haben könnten. »Wenn dieser Frau irgendetwas zustoßen würde, weil ich nicht hingefahren bin, könnte ich den Rest meines Lebens nicht mehr in den Spiegel sehen.«
»Ich weiß«, antwortete sie leise. Ihre Stimme zitterte, nur ganz kurz, aber es entging mir nicht. Das Kreischen der Maschine im Hintergrund füllte die Gesprächspause. »Weißt du, ich …«
Ich berührte ihr lächelndes Gesicht auf dem Foto. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich auch.«
Als ich fast schon da war, ging mir auf dem Highway beinahe das Benzin aus. Manchmal vergaß ich doch, dass die kaputte Benzinanzeige immer einen vollen Tank anzeigte, aber dann war mir der Kilometerstand ins Auge gefallen, und ich wusste, dass ich rausfahren musste. Mein Mund war staubtrocken, also lief ich erst mal in die Tankstelle, um mir ein Päckchen Kaugummi zu besorgen. Als ich draußen stand und mein Auto betankte, betrachtete ich mich im Rückspiegel. Der Spiegel starrte skeptisch zurück und hielt mich offensichtlich für einen Trottel.
Die Wohnhäuser in Indio erinnerten an Legoland – immer dieselben Bausteine, nur verschieden zusammengesetzt. In fünf oder sechs Modellen, die sich in Farbe und Größe unterschieden, säumten sie die Straßen und Sackgassen. Erst verfuhr ich mich, dann verfuhr ich mich beim Zurückfahren in der deprimierend monotonen Siedlung, und als die Uhr 21.15 Uhr zeigte, verwandelte sich meine Besorgnis in Panik. Ich betete, dass meine Nikes mit
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