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Oder sie stirbt

Oder sie stirbt

Titel: Oder sie stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregg Hurwitz
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liebte.
    Ich klappte das Handy zu und legte es auf das gesprungene Armaturenbrett. »Ich kann sie nur schlagen«, sagte ich zu meinem Telefon, »indem ich nicht mitspiele.«
     
    Ich fand Marcello allein im Schneideraum. Er fummelte gerade an einer Soundkonsole herum. Auf dem Computerbildschirm war das angehaltene Bild eines Mannes in Badehose zu sehen, der gerade auf einem Sprungbrett hüpfte. Als Marcello ihn mit einem Mausklick freiließ, ertönte das
Doing
des Sprungbretts etwas zeitversetzt.
    »Kannst du dir was anschauen für mich?«, bat ich.
    Er hielt den Turmspringer an, als dieser gerade auf der Wasseroberfläche auftraf, und beugte sich über mein Handy. Ich spielte ihm den zehn Sekunden langen Clip vor.
    »Cinéma vérité«, meinte er, als er ihn zu Ende gesehen hatte. »Das Auto als Metapher für die Reise des Lebens.«
    »Auf dem Handy kann ich nicht auf Pause gehen, aber guck mal hier.« Ich spielte das Video noch einmal ab. »Hier ist so ein kleines Spiegelbild auf der Windschutzscheibe, als der Sattelzug vorbeifährt. Siehst du das? Ich glaube, das ist die Fahrgestellnummer. Gibt es irgendeine Möglichkeit, das Ganze in Final Cut Pro zu laden und schärfer zu stellen?«
    »Könnte ’ne Weile dauern. Also, das Schärferstellen mein ich.« Dann mischte sich ein Anflug von Ärger in seine Stimme. »Patrick, was soll das Ganze eigentlich?« Ungeduldig verschränkte er die Arme, während ich überlegte, wie ich es am besten formulieren sollte.
    »Man schickt mir Ausschnitte vom Leben anderer Menschen. Von deren Problemen sozusagen.«
    »Sie machen mit denen also dasselbe wie mit dir?«
    »Ja. So ähnlich. Also, das ist alles ein bisschen kompliziert.«
    Er runzelte die Stirn.
    »Was ist denn?«, fragte ich.
    »Es gibt überhaupt keine Privatsphäre mehr. Und es kommt mir so vor, als hätten wir uns alle schon dran gewöhnt. Oder als hätten wir sie einfach Stück für Stück aus der Hand gegeben. Lauschangriffe werden einfach mal schnell legalisiert. Der Staat verhaftet seine eigenen Bürger als Staatsfeinde. Unter dem Vorwand der terroristischen Bedrohung schnüffeln sie einen aus bis in den letzten Winkel. Ganz zu schweigen von diesem ganzen Reality-Scheiß. Girls Gone Wild. Heulende Politiker auf YouTube. Ehepartner, die sich bei Kummertanten ausheulen. Man kann nicht mal im Krieg fallen, ohne dass hinterher jeder Idiot mit Flachbildschirm die Infrarot-Aufnahmen davon sieht. Es gibt …« Er schob den Unterkiefer vor und verzog die Lippen, während er nach dem passenden Wort suchte, »… einfach keinen Anstand mehr.« Er seufzte tief und bekümmert. »Früher musste man berühmt sein, um berühmt zu sein. Und heute? Heute ist
alles
real. Heute ist
alles
Fake. Was ist so faszinierend daran, durch jedes Schlüsselloch zu gucken, verdammt noch mal?«
    »Ich nehme an …« Ich hielt inne und studierte meine Schuhe.
    »Ja?«
    »Ich nehme an, die Leute finden es einfach tröstlich zu wissen, dass es überall mies sein kann. Dass es nicht nur sie betrifft. Dass niemand die Antwort auf alle Fragen hat.«
    Unter seinem mitleidigen Blick fühlte ich mich ganz nackt. »Als ich noch ein Kind war, dachte ich, dass Kino magisch ist. Und dann wurde ich erwachsen.« Er lachte kurz und wehmütig auf und fuhr sich mit der Hand über die kratzigen Bartstoppeln. »Typen in Zimmern. Typen auf Filmsets. Typen vor Computermonitoren. Das ist es eben. Da geht was verloren. Ich glaube, das kann jeder spüren. Wenn man die Dinge plötzlich aus nächster Nähe sieht, denen man die ganze Zeit hinterhergerannt ist, rangezoomt bis zur letzten Warze, was tut man dann?« Er machte ein ploppendes Geräusch mit den Lippen, drehte sich abrupt wieder seiner Konsole zu und machte mit seiner Arbeit an dem Studentenfilm weiter. Die Bilder liefen rückwärts, der Turmspringer kam platschend wieder aus dem Wasser, das Wasser glättete sich zu einer unberührten Fläche. Wie leicht sich das ganze Chaos dort wieder rückgängig machen ließ.
    »Marcello.« Meine Stimme war leicht heiser. »Das hier ist mittlerweile wesentlich mehr als Voyeurismus.«
    »Ich weiß.« Er sah mich gar nicht an. »Schmeiß her, das Handy. Ich hab mich schon ausgemeckert.«
    Ich legte es neben ihm auf den Tisch. »Sicher?«
    »Glaub schon.« Ich wollte noch was zu Britney Spears und ihrer unmöglichen Unterwäsche sagen, aber irgendwie hab ich dann den Faden verloren.
    Ein paar Studenten betraten den Raum, und ich musste flüstern. »Niemand darf wissen, was du

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