Oder sie stirbt
kauerte vor einem Computer in Kinko’s und betrachtete das Bild. Das Handy hatte ich griffbereit, und als ich mit dem Daumen auf Aufnahme drückte, summte die Sanyo-Kamera los. Zuvor hatte ich so lange geübt, bis mein Daumen die Tasten blind finden konnte. So konnte ich beliebig lange mitfilmen, immer zehnsekundenweise, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.
Das Bild auf dem Bildschirm wurde schwächer und wich der Nahaufnahme einer Zimmernummer: 1407 .
Als Nächstes sah man einen Personaleingang, eine massiv wirkende Metalltür, daneben ragte ein Stück von einem Müllcontainer ins Bild. Den Markierungen auf dem Parkplatz und an der Betonfassade konnte ich entnehmen, dass wir immer noch auf dem Hotelgelände waren.
Das nächste Bild ließ mich zusammenfahren: meine silberne Schlüsselkette auf der Arbeitsplatte in der Küche. Die Aufnahme war bei Tageslicht gemacht worden, aber die Zeit ließ sich nicht genauer bestimmen.
Die folgende Nahaufnahme zeigte einen einzelnen Schlüssel. Stabil. Messing. Keiner von meinen.
Benommen griff ich in meine Tasche, zog den Schlüsselbund hervor und legte ihn auf die Handfläche. Auf den ersten Blick fiel er nicht gleich ins Auge neben all den anderen Schlüsseln, aber da war er, wie ein Weihnachtsgeschenk. Ein neuer Schlüssel. Und ich hatte ihn die ganze Zeit dabeigehabt.
Die PowerPoint-Präsentation lief weiter. Wir waren inzwischen in meinem Camry. Der Fotograf musste auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Das Handschuhfach stand offen, und auf der Dose mit den Pfefferminzdrops lag eine dieser Plastikkarten, die man in Hotels neuerdings statt Schlüsseln benutzt.
Auf dem Bildschirm erschien eine Botschaft: 2 UHR MORGENS . KOMMEN SIE ALLEIN . PASSEN SIE AUF , DASS SIE NIEMAND BEOBACHTET .
Dann die nächste: SIE MÜSSEN IHN TREFFEN .
Ihn.
Ihn?
Mein Sanyo hörte auf aufzuzeichnen, bevor sich das Browserfenster schloss, und ich starrte wieder auf die Mail in meinem Gmail-Account, in der ich den Link gefunden hatte. Meine Finger, mit denen ich krampfhaft das Handy umklammerte, schmerzten. Ich entspannte sie und sah zu, wie sich die Haut langsam wieder rosarot färbte.
Ich klickte auf »Antworten«, und zu meiner Überraschung erschien tatsächlich eine Adresse. Eine lange, willkürliche Ziffernfolge, gefolgt von
gmail.com.
Die Digitaluhr auf dem Desktop sagte mir, dass ich fürs Abendessen schon zu spät dran war. Für einen Spaziergang mit Ariana. Für mein ganzes Leben. Ich dachte an meine Aktentasche, in der sich die ungelesenen Arbeiten meiner Studenten stapelten. An unsere Wände, die bis zu den Rohren und Stützpfosten aufgerissen waren. An das Haus, das ich wieder instand setzen musste, mit allem, was dazugehörte. Ich war den Menschen in meinem Leben mehr schuldig als das. Außer dem einen, dessen Leben hier auf dem Spiel stand.
Ich schrieb:
Ich mach hier nicht mehr mit, solange ich nicht weiß, wer Sie sind und warum Sie mir das antun.
Rasch ging ich auf »Senden«, bevor meine Zweifel Oberhand gewinnen konnten.
Ich starrte auf den Bildschirm und überlegte, was ich da wohl gerade angestellt hatte.
Aus den Lautsprechern kam ein comicartiges »Plop« und riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Auf dem Bildschirm war eine nette, kleine Sprechblase des AOL -Instant Messenger erschienen.
HEUTE NACHT WERDEN SIE ALLES VERSTEHEN.
Ich hatte mich nicht mal ins Instant-Messenger-Programm eingeloggt. Trotzdem war es aufgegangen.
Zähneknirschend starrte ich auf den schnippischen Satz. Ich hatte es satt, wie sie mich manipulierten, mit mir Blindekuh spielten und mich dabei in Angst und Schrecken versetzten. Irgendetwas in mir hatte sich verändert, sei es durch Aris beharrlich vorgetragenen Argumente, sei es durch die ominöse Stille, die mich an Beemans Wohnungstür empfangen hatte. Doch meine Entschlossenheit war ins Wanken geraten, je mehr Vermutungen ich anstellte, und mittlerweile war ich überhaupt nicht mehr sicher, dass die Verweigerungstaktik die richtige war.
Schwer atmend starrte ich auf den Bildschirm und versuchte, meinen Mut zusammenzunehmen.
Meine Finger hämmerten auf die Tastatur und stellten die Frage, vor deren Antwort ich mich fürchtete:
Was, wenn ich nein sage?
Ich lehnte mich zurück. Im Laden klingelten die Registrierkassen, und die Kopierer surrten und klickten wie futuristische Lebensformen. Die Klimaanlage blies mir kühle Luft in den Kragen.
Neues Plop, neue Message. Diesmal hätte es genauso gut meine eigene Sprechblase sein
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