Odessa Star: Roman (German Edition)
im Studio, Richard H., der mich im silbergrauen Mercedes hierhergefahren hatte.
»Was anderes«, sagte Mencken, als die Visagistin gegangen war. »Du darfst das nicht … du darfst das nicht falsch verstehen, aber …« Er guckte nach unten, zu der Stelle, wo er das Stanleymesser vermutete, »bei der nächsten Frage setzen wir … setzt du den Telefonjoker ein.«
Ich starrte ihn an.
»Es ist sonst nicht glaubwürdig, verstehst du?« Mencken lächelte entschuldigend. »Dass du alles weißt, meine ich. Natürlich weiß du alles selber, habe ich gemerkt, aber wir kommen jetzt zur Million und danach … der Jackpot. Die Leute glauben es sonst vielleicht nicht, ein Kandidat, der alle Antworten ohne Hilfe …«
»Ich brauche keinen Joker«, sagte ich.
»Das weiß ich.« Mencken warf wieder einen nervösen Blick auf eine unbestimmte Stelle unter dem Tisch. »Aber wir haben alles unter Kontrolle, du brauchst nur bei der nächsten Frage etwas zu zweifeln, ja, und dann setzt du den Telefonjoker ein.«
»Noch zehn Sekunden!«, rief der Aufnahmeleiter.
Es wird kaum jemand außer mir gesehen haben, dass der Moderator die Hände wie zum Gebet faltete. »Please …?«, flüsterte er.
Die Melodie von Wer wird Millionär? ertönte. Mencken rückte seine blaue Krawatte zurecht und beugte sich über seine Karten.
»Fred Moorman ist bei hundertachtundzwanzigtausend Gulden angelangt. Er kann den Betrag verdoppeln, wenn er die Antwort auf folgende Frage weiß. Sind Sie bereit, Fred?«
Ich nickte. Es gelang mir sogar zu lächeln.
»Hier die Frage … Ein Rollator. Ist das A eine Teigrolle, B ein Deodorant, C eine Gehhilfe oder D ein Fließband?«
Ich fühlte ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen. Als ich mich vorbeugte, um die Antworten auf meinem Monitor besser lesen zu können, erreichte das Prickeln meine Handgelenke.
»Ein Rollator …«, sagte ich. »Ist das eine Gehhilfe …?« Ich brauchte Mencken nicht anzusehen, ich hörte ihn beinahe erstarren. »… oder ein Deodorant …« Gibt es das nicht, ein Roll-Deo? … Eine Teigrolle halte ich für unwahrscheinlich, und ein Fließband … Nein, glaube ich auch nicht …?«
»Sie sind sich nicht sicher, Fred?«
»Ja, das heißt, ich schwanke zwischen dem Deodorant und … der Gehhilfe.«
»Sie haben noch zwei Joker«, sagte Mencken, etwas zu rasch und zu eifrig für mein Gefühl.
Ich schüttelte ein paarmal nachdenklich den Kopf und wiederholte möglichst langsam die vier Antworten. »Deodorant … nein, also ich weiß nicht.«
»Also der Telefonjoker?«
Zum ersten Mal während der Frage über den Rollator sah ich Erik Mencken direkt in die Augen. »Ja«, sagte ich, »ich würde dann doch gern jemanden anrufen.«
Mencken holte tief Luft und schaute auf seine Kärtchen. »Die Person, die Ihnen helfen soll, ist … Rolf Biervoort … Das ist Ihr ehemaliger Französischlehrer am … am Erasmus-Gymnasium. Hallo, sind Sie am Apparat, Herr Biervoort?«
Eine Zeit lang hörte man nur ein atmosphärisches Rauschen und noch ein Geräusch, als würde jemand atmen. »Biervoort.«
Es war nicht die Stimme meines Französischlehrers von vor dreißig Jahren und auch nicht die des alten Mannes, der vor einem Jahr in der Tür seiner Wohnung umgebracht worden war, nein, es war jemand, der die Stimme eines alten Mannes nachzuahmen versuchte.
Und das eine Wort genügte mir, um zu wissen, wer der Imitator war.
»Herr Biervoort«, sagte Mencken vergnügt. »Ihr ehemaliger Schüler Fred Moorman braucht Ihre Hilfe. Was für ein Schüler war Fred, Herr Biervoort?«
Etwas in Menckens munterem Ton sagte mir, dass er keine blasse Ahnung hatte, mit wem er sich da unterhielt.
Max räusperte sich. »Ach, was soll ich sagen …« Er klang, als hätte er vergessen, dass er einen alten Mann spielte, aber dann korrigierte er sich. »Er war sehr lernbegierig, das schon … hatte ein enorm gutes Gedächtnis. Meine Frau arbeitete damals in der Bibliothek, und dort hielt sich Fred oft auf.«
Mencken nickte beifällig. »Nun, Fred. Sie haben fünfzig Sekunden …«
Schwer zu sagen, weshalb ich dann tat, was ich tat. Eine Rolle spielte sicher, dass mir durch die Art der »vorgekauten« Fragen jede Chance genommen war, mein Wissen auszuspielen, und dass sich Max auch noch selbst als Herr Biervoort in das Ganze eingeschaltet hatte.
Hinzu kam, dass ich in jenem Moment Richard H. im Hintergrund ziemlich aufgeregt und kopfschüttelnd aufund ab gehen sah. Er hatte mich von zu Hause abgeholt und zum
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