Odessa Star: Roman (German Edition)
kein Irrtum möglich war: Er wollte mir noch einmal zu verstehen geben, welche Antwort die richtige war, Stanleymesser hin oder her.
»Ich bleibe beim Deodorant«, sagte ich.
»Sie können auch nicht antworten«, sagte Mencken. »Dann gehen Sie mit hundertachtundzwanzigtausend Gulden nach Hause. Andernfalls fallen Sie zurück auf sechzehntausend. Denken Sie noch mal gut darüber nach.«
Ich sah mir das Publikum an. In der ersten Reihe saßen üblicherweise Angehörige des Kandidaten, aber ich konnte niemanden entdecken, den ich auch nur im Entferntesten kannte. Wen ich auch nicht entdecken konnte, war der wild hin und her laufende Richard H.
»Antwort B«, sagte ich. »Das Deodorant.«
5
Dem ersten Schlag mit der flachen Hand auf mein rechtes Ohr hielt ich noch stand, aber als Richard H. mir mit voller Wucht das Knie ins Zwerchfell rammte, ging ich nach Luft schnappend in die Knie, mit einer Hand stützte ich mich ab, die andere presste ich ans Ohr.
Verschwommen registrierte ich Schmerz, aber unangenehmer war das laute Dröhnen, das sich in meinem Kopf ausbreitete und gegen die Augen drückte, als suchte es dort nach einem Ausgang. Jetzt hob sich Richard H.s Schuh und landete zwischen meinen Rippen. Ich fiel gurgelnd vornüber in den Schlamm.
»Steh auf«, übertönte seine Stimme das Dröhnen. Mit der Linken suchte ich Halt an den Grasbüscheln, aber noch bevor ich mich halbwegs aufgerichtet hatte, trat er mir zweimal hintereinander in den Magen. »Du bist weniger wert als Scheiße, hörst du? Weniger als Scheiße!« Der Schmerz überlagerte jetzt das Dröhnen; er ging vom Zwerchfell aus und hämmerte bis in die Schultern und in die Rückseite meines Kopfes. Etwas Saures kroch mir aus der Lunge oder der Speiseröhre in den Hals, einmal gelang es mir, es wieder runterzuschlucken, aber beim zweiten Mal landete es außerhalb von mir im Schlamm.
Beim nächsten Tritt hatte ich das Gefühl, ich würde einpaar Zentimeter hochgehoben; meine Augen füllten sich mit Tränen – oder war es Blut?, aber aus Angst, Richard H. könnte das als Provokation auffassen, traute ich mich nicht, die Hand ans Gesicht zu bringen. Mit der Schuhspitze berührte er ein paarmal leicht meinen Hinterkopf, wie ein Billardspieler, der zum Stoß ansetzt.
»Einen Augenblick …« Das war Max. Durch meine verklebten Wimpern sah ich ihn eine Schachtel Marlboro aus der Brusttasche angeln und sich eine anstecken.
Richard H. zog mich an den Haaren hoch und hielt mir die Pistole an die Stirn.
»Weniger als Scheiße«, zischte er. »Dünnschiss, würde ich mal sagen.« Er holte aus und schlug mir mit dem Lauf auf die Nase. Es knackte hörbar, Blut spritzte. »Du Jammerlappen!«, schrie Richard H. und drückte mir wieder den Lauf der Pistole an die Schläfe.
»Ich …«, setzte ich an, aber es war nicht mehr als ein Piepsen. Ich konnte nichts dafür, aber ich musste an eine Szene in einem Film denken, auf dessen Titel ich mal wieder nicht kam, in der jemand in einem Wald auf den Knien um sein Leben fleht, während ihm die Pistole an die Schläfe gedrückt wird. Im Film findet die Hinrichtung schließlich nicht statt, dem Betreffenden fällt rechtzeitig das rettende Wort ein, und später nimmt er fürchterliche Rache. Ich suchte fieberhaft nach einem Wort, das Richard H. dazu bewegen könnte, die Pistole einzustecken.
Stattdessen fiel mir meine Frau ein; genauer gesagt das, was sie mir vor zwei Jahren im Liegestuhl auf Menorca gesagt hatte. Ja, was würde sie tun, wenn ich tot war? Würde sie mir eine Träne nachweinen? Würde sie sich ein Taschentuch an die Augen drücken, wenn der Sarg mit meiner irdischen Hülle ins Grab hinabgelassen würde? Und dann dachte ich an meinen Sohn. War er alt genug, um mein Ableben ohne bleibende Schäden zu überstehen? Oder besser gefragt: War er alt genug, um ohne die Verachtung, die er tagaus, tagein mir gegenüber empfand, auszukommen? Oder würde sie durch meinen gewaltsamen Tod allzu früh in Trauer und Bewunderung umschlagen, was seiner Entwicklung zur selbstständigen, von den Eltern unabhängigen Persönlichkeit schaden würde?
Und dann dachte ich an den Ort, an dem ich mich befand, aber mit weiß-roten Absperrbändern zwischen den Bäumen und Polizisten, die die Spuren am Tatort sichern. Ich dachte an die Zeitungsnotiz: »Im Flevopark in Amsterdam wurde heute früh die Leiche eines etwa fünfzigjährigen Mannes gefunden. Der Umstand, dass er mit einem Kopfschuss ermordet wurde, lässt auf eine
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