Odessa Star: Roman (German Edition)
nicht einmal direkt angesehen, sondern ohne Zögern geantwortet, die Fragen waren allerdings auch von einer so beispiellosen Stupidität – befindet sich die Alhambra in A Sevilla, B Madrid, C Benidorm oder D Granada, von der Sorte –, dass ich am liebsten überhaupt nirgendwohin geguckt hätte. Aber während der ersten Werbepause hatte Mencken mich in nervösem Flüsterton gefragt, ob ich noch recht bei Trost sei. »Es steht dir natürlich frei, mich nicht anzusehen«, sagte er, die Hand auf dem Mikrofon am Revers seines blauen Sakkos, »aber die Leute merken sofort, ob etwas nicht stimmt. Und damit meine ich nicht die Idioten auf der Tribüne, sondern die da …« Er nickte fast unmerklich mit dem Kopf in Richtung Kameraleute, Aufnahmeleiter, Visagistinnen und Beleuchter. In der Garderobe hatte er mir kurz vor Sendebeginn die kleinen Gesten und Mienen erklärt, mit denen er mich im Zweifelsfall zur richtigen Antwort bugsieren würde. So bedeutete das Hochziehen der linken Augenbraue Antwort A, der rechten Antwort B, ein breites Lächeln Antwort C und eine finstere Miene Antwort D. Er stand nervös in der Tür der Garderobe und schaute erst den Gang rauf und runter, bevor er mir die finstere Miene zeigte – die den Unterschied zwischen zehn Millionen und gar nichts ausmachen konnte –, und ich musste lachen: Genauso hatte er geguckt, als er bei der großen Spendensendung zwischen den Rollstühlen stand, in denen die Kinder mit Muskelschwäche saßen.
»Was ist?« Der Moderator warf einen besorgten Blick in den Spiegel an der Wand. »Hast du was einzuwenden?«
»Nein, gar nicht«, sagte ich. »Es ist fast zu perfekt.«
Und ganz kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Erik Mencken in mein Vorhaben einzuweihen. Jeder andere außer dem Moderator von Wer wird Millionär? hätte dafür Verständnis gehabt. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich denPlan gefasst hatte, mir die zehn Millionen (1 Million) auf ehrliche Weise zu verdienen. Ich würde die hochgezogenen Augenbrauen ignorieren, ja, ich würde schneller antworten, als der Moderator seine Augenbrauen in Bewegung setzen konnte, schon gar nicht würde er sein finsteres Gesicht aufsetzen können, bevor ich geantwortet hätte, die Alhambra befinde sich in Granada.
Diese Frage brachte mir 4000 Gulden ein, und während der Werbung versprach ich Mencken Besserung, das heißt, ich versprach, ihn anzusehen, solange er die Augenbrauen nicht hochziehen oder auf andere Weise seine Mimik einsetzen würde, um mir auf die Sprünge zu helfen.
Ich winkte ihn zu mir heran. »Guck mal unter den Tisch«, sagte ich leise. Ich hatte das Stanleymesser, das ich von zu Hause mitgenommen hatte, ein Stück aus der Hosentasche geholt, weit genug, dass Mencken es sehen konnte. Mencken erstarrte, er legte die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls.
»Schön sitzen bleiben«, sagte ich, zog die Klinge ein und schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Und mach nicht so ein erschrockenes Gesicht. Wie du selbst gesagt hast: Die Leute merken sofort, wenn was nicht stimmt.«
Mencken blickte um sich, aber unter den Dutzenden von Technikern und Mitarbeitern von Wer wird Millionär? , die sich im Studio aufhielten, war niemand, der uns beachtete. Mencken hob zögernd die Hand, als wollte er jemanden auf uns aufmerksam machen, aber er ließ sie rasch wieder sinken.
»Hör zu«, sagte ich. »Es ist ziemlich schwierig, jemanden mit einem Stanleymesser umzubringen, es dauert jedenfalls viel zu lange, das habe ich also auch gar nicht vor. Aber ich kann dir damit gründlich deine Visage verunstalten, die Fernsehkarriere kannst du dann vergessen. Keine Ahnung, wie viel du dir in die Tasche steckst, aber ich denke, es ist für alle besser, wenn wir uns ab jetzt an die Spielregeln halten.«
»Noch zwanzig Sekunden!«, ertönte die Stimme des Aufnahmeleiters. Mencken biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Also keine Grimassen mehr«, sagte ich. »Verstanden?«
Der Aufnahmeleiter kam an unseren Tisch und legte die Hände auf unsere Schultern. »Noch zehn«, sagte er. »Alles okay hier?«
Erik Mencken nickte, nach einem Blick auf mich nickte er noch mal; er machte jetzt kein finsteres Gesicht mehr, er unternahm sogar einen Versuch zu lächeln, während die Sekunden bis zur Fortsetzung der Sendung abgezählt wurden.
Bis vor Kurzem hatte ich dem populären Moderator noch zugetraut, ein nicht ganz heimliches Verhältnis mit meiner Frau zu haben. Mehr als einmal hatte ich im vergangenen Jahr
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