Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
Vom Netzwerk:
Abrechnung im kriminellen Milieu schließen …«
    In dem Moment hörte ich das Klicken, mit dem Richard H. die Pistole entsicherte. »Sieh mich an«, sagte er.
    Wie spät war es gewesen, als die beiden mich abholten? Das lange anhaltende Klingeln, der verschlafene Blick auf den Wecker … »Halb sechs … wer kann das so früh sein?« Der flüchtige Kuss auf die Wange meiner Frau (»Ich schau mal …«), die eilig übergestreiften Kleider, und dann Max und Richard H. vor der Tür, der Mercedes mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern mitten auf der Straße.
    »Hast du einen Moment Zeit? Wir wollen dir etwas zeigen.«
    Und dann die Fahrt zum nahe gelegenen Flevopark; als wir am Ende der Valentijnkade ausstiegen, sah man in den Wolken am östlichen Himmel die ersten rosa Streifen.
    »Los, komm schon …« Erst dachte ich noch, sie wollten mir die Stelle zeigen, wo sie Frau de Bilde begraben hatten, aber der Ton in Richards Stimme und mehr noch der Stoß, den er mir versetzte, belehrten mich eines Besseren. Im Park waren wir auf einem Fußweg bis ans Wasser des NieuweDiep gegangen, das zu dieser Stunde still und verlassen dalag. Am Ufer schaukelten ein paar schlafende Blesshühner, in der Ferne sah man die nebligen Umrisse der Schellingwouderbrücke. Wir waren noch ein paar Meter auf einem schmaleren Pfad zwischen Sträuchern am Ufer entlanggegangen. Ich hatte mir den Kopf zermartert nach irgendeinem Witz, um die Atmosphäre etwas aufzulockern.
    »Pst«, zischte Max jetzt und legte die Hand auf Richard H.s Arm. »Still …«
    »What the fuck?« Richard schlug mir noch einmal mit der Pistole ins Gesicht, ließ dann aber doch die Hand sinken. Trotz des lauten Pfeiftons in meinem Ohr hörte ich jetzt auch rasche Schritte. Ein Jogger näherte sich auf dem Fußweg, auf dem wir gekommen waren.
    »Steh auf«, sagte Max zu mir, streckte mir die Hand hin und zog mich hoch.
    »Verdammt«, sagte Richard H., »der ist früh dran …«
    Der Jogger kam näher. Erst sah ich nur das schwarze T-Shirt, dann auch die schwarze Jogginghose und die blauen Laufschuhe – es war ein Mann um die fünfzig mit schütterem grauem Haar.
    Kurz schien es, als würde er an uns vorbeilaufen, aber dann musste ihn doch etwas stutzig gemacht haben; im Laufen schaute er sich um und machte dann kehrt, blieb aber in sicherem Abstand stehen.
    »Haben Sie Probleme?«, rief er.
    Max schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Unser Freund hier ist ausgerutscht, wir bringen ihn in die Notaufnahme.«
    Der Mann kniff die Augen zusammen und sah aufmerksam zu mir herüber; irgendwie kam er mir bekannt vor, vielleicht aus der Nachbarschaft oder vom Fernsehen.
    »Sind Sie ganz sicher?«, fragte er. »Das sieht wirklich nicht gut aus.« Und er nickte in meine Richtung.

    Mit großen Schritten stapfte Richard H. auf den Mann zu. »Hast du ihn nicht verstanden?«, schnauzte er ihn an. »Wir sind auf dem Weg zur Notaufnahme.« Er hob den Arm und richtete die Pistole auf ihn. »Aber vielleicht hast du ja Lust, mitzukommen.«
    Noch zwei Sekunden blieb der Mann wie angewurzelt stehen – er erinnerte an ein Wild, das beim Überqueren der Straße einen heranrasenden Lastwagen sieht und sich nicht entschließen kann, ob es nach rechts oder links wegspringen soll –, dann drehte er sich abrupt um und verschwand eilig zwischen den Sträuchern.
    »Blödes Arschloch!«, brummte Richard.
    Max schnippte seine Zigarette weg. »Verdammte Scheiße!«
    Kopfschüttelnd kam Richard H. wieder auf mich zu, aber Max stellte sich ihm in den Weg. »Wir gehen«, sagte er.
    »Und der?«, fragte Richard und zeigte mit der Pistole auf mich.
    »Wir gehen.«
    Richard H. sah von mir zu Max und wieder zurück; schließlich steckte er die Pistole in den Gürtel. Er bückte sich und zog das Hosenbein ein wenig hoch; ich hielt die Luft an, denn vor über einem Jahr hatte ich ihn das schon mal tun sehen, nachdem wir die beiden Sonntagsfahrer auf einem Gelände am Nordseekanal gestellt hatten – doch er steckte nur den Finger unter das Gummiband seiner Socke und kratzte sich. »Verdammte Brennnesseln!«, sagte er.
    Schweigend gingen wir zum Auto zurück. Wir begegneten niemandem mehr. Ich dachte an den Jogger und dann an meine eigenen Laufschuhe, die schon ein knappes Jahr unbenutzt im Schrank standen; sollte das hier gut ausgehen, nahm ich mir vor, würde ich wieder joggen gehen.
    Beim Mercedes angekommen, stellte sich Max auf die Straße und blickte die Valentijnkade ein paarmal in beide

Weitere Kostenlose Bücher