Odessa Star: Roman (German Edition)
Ferne die Flammen und weißen Rauchwolken aus den Hochöfen. Weil der Wind vom Land wehte, hing über dem Parkplatz am Anfang des Piers der Geruch von Kohlen und Öl. Bei heftigeren Windstößen trieb sogar ein dünner Nebel aus Kohlengrus zum Strand.
Ich trabte ein Stück auf den Pier hinaus. Siebenmal eine Minute rennen, dazwischen zwei Minuten gemächlich gehen, das war das Schema des ersten Tages, wie es im Leitfaden für Jogger stand. Obwohl ich Rückenwind hatte, war ich jedes Mal froh, wenn auf meiner Nike-Sportuhr der Countdown bis zur Pause lief. Nach drei Sprints von je einer Minute hustete ich einen fetten Klumpen Schleim aus. Mein bis zum Hals schlagendes Herz gab mir zu verstehen, dass ich höchstwahrscheinlich einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Geldes zurückbekäme, wenn ich die Schuhe noch heute zum Laden zurückbrächte. Die Nike-Sportuhr könne ich behalten, sie würde mir einen sportlichen Anstrich geben, ohne dass ich zu rennen brauchte.
Nach dreieinhalb Minuten machte ich kehrt. Der starke Wind trieb mir Tränen in die Augen, was mich aber nicht daran hinderte, in meinen Laufpausen das Timbuktu zu beobachten. Nicht mehr als fünfundzwanzig Leute saßen auf der Terrasse, Max G. war nicht darunter. Ein Mann in kurzen Hosen schlug mit einem Tennisschläger einen Ball immer wieder fast bis zur Brandung; ein braun-weiß gefleckter Hund rannte ihm hinterher.
An der Bar bestellte ich ein Halbliterglas Bier. Der Schweiß rann mir über die Stirn in die Augen und lief mir kitzelnd den Rücken hinunter. Ich beäugte meine Laufschuhe und dachte an Christines »Für wie alt hältst du dich eigentlich?«. Ein paar Männer in Surfanzügen bestellten große Gläser Limonade. Bob Marleys »No Woman, no Cry« wogte dumpf über den Strand. Ich versuchte mir Max auf dieser Terrasse vorzustellen, es gelang mir nur halb.
»Wie war es?«, fragte meine Frau, als ich mich auf das Sofa fallen ließ.
»Es war killing.«
Sie setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf den Oberschenkel. »Du hörst also damit auf?«
»Ich fahre morgen wieder hin.«
Sie sah mich verständnislos an.
»Es ist zwar anstrengend«, sagte ich, »aber gleichzeitig auch sehr befriedigend. Man lernt seine physischen Grenzen kennen.«
Am nächsten Mittag stand das silbergraue Mercedes-Cabrio auf dem Parkplatz beim Nordpier. Es war ein sonniger Tag, und das Dach war offen. Ein paar Meter weiter begann ich mit dem Aufwärmen. Es hatte etwas Freches, dieses offene Dach, als wollte der Wagen einen geradezu auffordern, ihn anzufassen. Auf dem Pier spazierten Familien mit Kindern; ich stellte die Uhr ein und begann mit dem ersten Sprint von einer Minute.
In dem Moment schob sich ein Frachter aus dem Nordseekanal. Die Flagge am Achterdeck konnte ich erst nicht einordnen, bis ich den Namen Odessa Star am Bug sah. Das Schiff war von vorne bis hinten mit einer braunen Rostkruste bedeckt, deren Farbe zur Wasserlinie hin gelblicher wurde, als hätten Dutzende von Seeleuten wochenlang über Bord gepinkelt. An Deck standen genauso rostige Kräne,ansonsten war keine Menschenseele zu sehen. Als sich die Odessa Star der Hafenausfahrt näherte, ertönte ein paarmal die Schiffssirene, es klang wie das Bellen einer Robbe oder eines Walrosses mit Lungenemphysem.
Ich sah Richard H. erst, als ich schon fast mit ihm zusammenstieß. Er hatte einen Fuß auf die niedrige Mauer des Piers gestellt. Das Hosenbein war weit nach oben gerutscht; er trug eine Sonnenbrille und sprach in ein Handy.
»Das nervt mich auch immer ziemlich«, fing ich im Vorbeilaufen auf. »Aber damit musst du ihm natürlich nicht kommen …«
Ich rannte noch ein kleines Stückchen weiter und drehte mich um.
Richard H. stand nicht mehr mit einem Fuß auf dem Mäuerchen, sondern ging, mit der freien Hand immer wieder weit ausholend, zwischen den Spaziergängern hindurch von mir weg. Unwillkürlich blickte ich mich um, ob auch Max in der Nähe war, aber ich sah ihn nirgends. Langsam folgte ich Richard H.
»Du solltest übrigens mal die Sirene nachgucken lassen«, hörte ich ihn sagen, als ich ihn fast eingeholt hatte. »Die Leute erschrecken sich zu Tode.«
Er blieb stehen; auch ich hielt an. Richard H. setzte wieder einen Fuß auf das Mäuerchen. »Was …? Wo bist du denn? Okay, aber wink dann, ja? Sonst gehe ich … Okay, okay … ich winke auch …«
Er hob den Arm und spähte über das Wasser; ich folgte seinem Blick. Hinter einem der dreckigen Fenster des
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