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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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mich an den Zettel, den ich vor ein paar Tagen bei Frau de Bilde in den Briefkasten geworfen hatte und auf dem ich ihr mitteilte, am nächsten Samstag könne es zu einer gewissen Lärmbelästigung kommen. Lärmbelästigung! Sie war auf einem Ohr taub, und wenn man mit ihr redete, wandte sie einem immer ihr »gutes« Ohr zu. Seit ein paar Monaten benutzte sie eine Gehhilfe, wenn sie aus dem Haus ging. Vor drei Tagen hatte ich sie auf der kleinen Brücke beim Galileïplantsoen stehen sehen. Völlig regungslos, als könnte sie weder vor noch zurück. Als ich näher kam, sah ich die Schweißperlen auf ihrer Stirn und hörte ihr mühsames Atmen, das so klang, als müsste sie jedes kostbare bisschen Luft in bleischweren Eimern aus einem tiefen Brunnen hochwinden.
    Sie hatte die Augen halb geschlossen und sah mich nicht. An einem Griff der Gehhilfe hing ein durchsichtiger Plastikbeutel mit Brot, wohl für die Enten und Blesshühner in der stinkenden Schlammgracht, die den Platz durchquerte. Ausihren blauen Pantoffeln quollen ihre geschwollenen Füße. Ganz kurz stellte ich mir vor, wie diese Füße abends vorm Schlafengehen der frischen Luft ausgesetzt wurden: Frau de Bilde saß auf der Bettkante und schnitt sich die verkalkten Fußnägel mit einem mehr einer Kneifzange als einer Schere ähnelnden Instrument. Eine gewöhnliche Schere hätte den fast zu Klauen verwachsenen Nägeln nichts anhaben können. Bei jedem Zuschnappen der Zange ertönte ein lauter Knall, ein spitzer Splitter schoss wie ein tödliches Projektil durch das Schlafzimmer und bohrte sich in das Holz des Tür-oder Fensterrahmens.
    Am anderen Griff der Gehhilfe war die Hundeleine befestigt. Der Hund stierte vor sich hin. Die Zunge hing ihm aus dem Maul; schwere Tropfen fielen auf den Bürgersteig. In seinem Blick war eine Mischung aus Verzweiflung und Ergebenheit zu lesen.
    Ich war stehen geblieben. Natürlich hätte ich etwas unternehmen können. Ich hätte Frau de Bilde fragen können, ob sie sich nicht gut fühle. Ob ich sie nach Hause begleiten solle. Aber ich unternahm nichts. Ich stand da und betrachtete sie. Der Hund hatte mich erkannt und wedelte lustlos mit dem Schwanz, während ich darüber fantasierte, wie es wäre, wenn Frau de Bilde nie mehr nach Hause zurückkehrte.
    Max ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren.
    »Zahlt sie die Miete pünktlich?«, fragte er.
    Ich starrte ihn an. Drinnen hatte jemand eine leise dahinplätschernde Salsa-Musik aufgelegt. Daher war gut zu hören, wie im Erdgeschoss die Gartentür aufging. »Na los«, hörte ich Frau de Bildes Stimme. »Nu mach schon, Junge …«
    Kurz darauf sahen wir, wie der gefleckte Hund sich langsam in den hintersten Winkel des Gartens schleppte und sich hinhockte.

7
    An den Rest des Abends habe ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Irgendwann wurde die Musik lauter gedreht, und jeder tanzte mit jedem. Richard H. tanzte mit meiner Frau – wie ein Stierkämpfer, eine Hand locker in der Taille, während er mit der anderen eine Art Torbogen formte, unter dem Christine hindurchtanzen musste. Max tanzte mit Galja. Tanzen war zu viel gesagt: Er klammerte sich an sie und rührte sich kaum von der Stelle. Manchmal verschwand sein Gesicht fast ganz in ihrem Haar.
    Neben der Stereoanlage stand Erik Mencken. Das Glas Wasser, das er immer noch in der Hand hielt, war jetzt leer. Mit einem unbestimmten Lächeln schaute er den Tanzenden zu. Erst hatte ich gedacht, er würde vor allem auf Christine achten, doch als ich genauer hinsah, merkte ich, dass sein Interesse eher Max und Richard galt.
    Ich erinnere mich auch noch, dass in der Pause zwischen zwei Liedern plötzlich ein Handy laut klingelte. Max löste sich aus Galjas Armen, aber erst auf dem Balkon zog er das Handy aus der Brusttasche.
    Ich schlenderte zu einem niedrigen Tischchen in der Nähe der Balkontür und griff in ein Schälchen mit Erdnüssen.
    »Wir sind nach unserer Besprechung noch einen trinkengegangen«, hörte ich Max sagen. »… Was …? Ich weiß nicht, wie die Kneipe heißt … Kaulquappe oder so ähnlich, in der Nähe von, wie heißt es noch mal? … Was …? Nö, wie spät denn …? Allmächtiger Gott …! Nein ehrlich, ich dachte, es ist höchstens … Was …? Natürlich fahre ich nicht mehr, Herzchen …«
    In dem Moment drehte Max sich zu mir um. Ich sah wahrscheinlich ziemlich dämlich aus mit meiner Handvoll Erdnüsse, und wahrscheinlich hörte ich abrupt zu kauen auf.
    »Hallo …?«, sagte Max. »Hallo …

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