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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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»Woher kennst du Max G. eigentlich?«, fragte er – er sagte nicht »Max G.«, sondern sprach den Namen vollständig aus. Es war merkwürdig, Max’ Nachnamen zu hören. Durch die Zeitungsberichte hatte ich mich in den vergangenen Jahren an das »G.« gewöhnt. Es gibt Leute, die »K« sagen, wenn sie Krebs meinen, wobei sie das K nur mit gesenktem Blickflüstern. Ich erinnere mich, dass ich mich unwillkürlich umschaute, ob nicht jemand mithörte.
    Ich sagte Mencken die Wahrheit, nämlich, dass wir die gleiche Schule besucht hatten und in dieselbe Klasse gegangen waren.
    »Und Richard H.?« Wieder nannte er den vollständigen Namen. Diesen allerdings hörte ich jetzt zum ersten Mal. Zwar hatte ich ein paarmal etwas über einen Richard H. in der Zeitung gelesen, von dem ich nun wie selbstverständlich annahm, es sei derselbe Richard H., der an meinem siebenundvierzigsten Geburtstag mit meiner Frau getanzt hatte. Ich entschuldigte mich bei Erik Mencken mit der Ausrede, ich könne meine Gäste nicht länger warten lassen.
    Später grinste er mich aus einiger Entfernung noch mehrmals an.

8
    An einem wolkenlosen Samstagmorgen kaufte ich mir bei Run-Inn, einem Sportgeschäft an der Linnaeuskade, eine Jogginghose, ein Thermohemd, nahtlose Thermosocken und Laufschuhe. Ich durfte mir die Schuhe nicht selber aussuchen, das übernahm die Verkäuferin. In dem Moment, als meine Füße in das weiße, geschmeidige Leder schlüpften, hatte ich irgendwie das Gefühl, sie gehörten nicht mehr ganz mir.
    Dann musste ich auf einem Laufband probelaufen. Eine Videokamera nahm die Bewegungen meiner Füße auf, die zum ersten Mal in ihrem Leben in Laufschuhen steckten. Gemeinsam mit der Verkäuferin sah ich mir anschließend das Video an. Sie spielte das meiste in Zeitlupe ab, manchmal hielt sie sogar das Bild an. Die holpernd stillstehenden Bilder verstärkten bei mir den Eindruck, die sinnlos auf dem Laufband rennenden Füße gehörten nicht mir, sondern jemandem, der hier vor langer Zeit ein Paar Schuhe gekauft hatte. Vielleicht war er schon tot, durchfuhr es mich, vielleicht standen die Schuhe inzwischen irgendwo in der hintersten Ecke eines Schranks.
    »Sehen Sie«, sagte die Verkäuferin nach dem dritten Paar, das ich anprobierte, »die Ferse ihres linken Fußes hat immer noch keinen perfekten Bodenkontakt.«

    Ein neues Paar wurde ausgepackt. Zum Schluss ging ich noch einmal an einem auf dem Fußboden durch den ganzen Laden gezogenen weißen Strich entlang, während die Verkäuferin in der Hocke das Aufsetzen meiner Fersen begutachtete.
    Ich kaufte auch noch den Leitfaden für Jogger und eine Nike-Sportuhr, auf der man die gelaufene Zeit auf die Hundertstelsekunden genau digital ablesen konnte, blätterte 486,50 Gulden hin und kehrte nach Hause zurück.
    Meine Frau sah zu, wie ich die Einkäufe auf dem Esstisch im Wohnzimmer ausbreitete. »Für wie alt hältst du dich eigentlich?«, fragte sie.
    »Vor zwei Wochen bin ich siebenundvierzig geworden.«
    Ich zog die nahtlosen Socken an und ließ die Füße in die Schuhe gleiten. Meine Frau schnaufte vernehmlich durch die Nase; sie machte fast das gleiche Gesicht wie vor knapp einem Jahr im Liegestuhl auf Menorca, als sie sagte, sie denke gerade an das Leben nach meinem Tod – nur diesmal ohne Sonnenbrille. Ich band die Schnürsenkel zu.
    »Du hast doch wohl nicht die Absicht, dich hier in der Nachbarschaft lächerlich zu machen.«
    Ich sah ihr direkt ins Gesicht; ich fühlte, wie mein Herz ein kleines Stückchen vom Boden abhob.
    »Nein, ich fahre ans Meer.«
    Meine Frau zog die Brauen hoch.
    »Ich laufe in den Dünen.« Oder am Strand, hätte ich beinahe hinzugefügt.
    In einer alten Nummer der Cosmopolitan hatte ich mal gelesen, jemand, der fremdzugehen beabsichtigt, solle »unkontrollierbare Stunden« einführen: weiße Flecken auf der Landkarte, sodass niemand weiß, wo er sich genau aufhält. Wenn sich der andere einmal an die »unkontrollierbaren Stunden« gewöhnt habe, könne man mit dem eigentlichen Betrug beginnen.
     

    Das Timbuktu war gar nicht so leicht zu finden. Nachdem ich ein paar Leute in Wijk aan Zee gefragt hatte, entdeckte ich es schließlich am Anfang des Nordpiers, circa vier Kilometer außerhalb des Dorfes und nach einer kurvenreichen Fahrt durch die Dünen.
    Windmühlen drehten ihre Flügel, über den mit Stacheldraht geschützten Dünen standen die Möwen in der Luft beinahe still; im Hintergrund sah man Kräne und vertäute Schiffe und noch weiter in der

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