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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Unterschriften und dazugehörigen Artikel las.
    Ich fragte mich, ob sie nicht zu alt war, um die Mutter des Jungen zu sein. Ach, sie war natürlich die gute Großmutter, die ihrem Enkel eine Reise nach Menorca spendiert hatte, damit seine »biologischen« Eltern ein paar Wochen langsein stumpfsinniges Gesicht nicht zu sehen brauchten. Ich dachte an die Eltern, an den nicht in menschlichen Zeiteinheiten zu bemessenden Augenblick unsagbaren Grauens bei der Geburt ihres Kindes, als ihnen bewusst wurde, dass ihr Leben vorbei war. Und wie sie dann mit dem Verstand beschlossen, das Beste daraus zu machen, all das Sabbern und Rotzen und Gestöhne rührend zu finden, es als die willenlosen Entladungen eines kranken oder beim Überqueren einer Autobahn angefahrenen Tiers zu betrachten, das sie jetzt für den Rest ihres Lebens in einem Schuhkarton pflegen mussten; das sie vor der großen, bösen Außenwelt voller Menschen schützen mussten, die mit normalen geistigen Fähigkeiten gesegnet waren. So wehrlos, so arm dran … müssen sie so oft gedacht haben, bis sie es selber glaubten.
    Ich trank den Kaffee aus und verließ den Speisesaal. Auf dem Parkplatz schlenderte ich eine halbe Minute unschlüssig hin und her. Wenn ich an den Strand ginge oder zum Pool, würde ich bestimmt meine Frau, meinen Sohn und Nathalie treffen; zurück zum Apartment kam nicht ernsthaft infrage. Ich beschloss, eine Runde durch das Dorf zu machen.
     
    Ein »Dorf« konnte man Cala Blanca eigentlich nicht nennen. Es gab ein paar staubige Gassen mit Kakteen und Palmen; die meisten Häuser schienen nicht älter als dreißig Jahre zu sein. Es war jedenfalls unmöglich, inmitten der Apartmenthäuser, Supermärkte und Parkanlagen mit Swimmingpools und Minigolfbahnen etwas von dem »alten malerischen Fischerdorf« zu entdecken, das in der Broschüre des Hotels Miramar angepriesen wurde. Genauso schien es sehr unwahrscheinlich, dass hier einst, vor ein paar Tausend Jahren, »phönizische Händler« an der steil aus dem Meer ragenden feindseligen Küste an Land gegangen waren. Die »phönizischen Händler« hätten sofort kehrtgemacht, wenn sie das heutige Cala Blanca zu Gesicht bekommen hätten.
    Ich kam an einem Kiosk vorbei, vor dem zwischen Aufblastieren, Fischernetzen für Kinder und Sonnencreme ausländische Zeitungen auslagen; ganz unten auf dem Ständer ragten der Telegraaf und das Algemeen Dagblad heraus. Ich bückte mich und sah nach dem Datum. Samstag, der 15. Juli … Das war vorgestern: kalter Kaffee. Ich schob die Zeitungen zurück und setzte meinen Spaziergang fort.
    Cala Blancas Hauptstraße war Fußgängerzone, vor allen Geschäften wurden die gleichen aufblasbaren Produkte feilgeboten, sehr populär waren das aufblasbare Telefon und eine zwei Meter lange Krokodil-Luftmatratze.
    Über allem hing der unappetitliche Geruch von süßen Bohnen in Tomatensoße und von Eiern, und als ich den Blick schweifen ließ, fiel mir auf, dass alle Tische vor den Restaurants von hässlichen, blassen englischen Familien besetzt waren, die sich hier, mehr als zweitausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, an dem gleichen abscheulichen Fraß gütlich taten, mit dem sie zu Hause tagtäglich der Verengung ihrer Herzkranzgefäße Vorschub leisteten. Statistisch betrachtet würde über die Hälfte der hier versammelten erwachsenen Vielfraße innerhalb von fünf Jahren einem Herzinfarkt oder Schlaganfall erliegen: Das Vereinigte Königreich war noch immer weltweit das Arterioskleroseland Nr. 1, und dem Essverhalten seiner Untertanen in der Fremde nach zu urteilen, würde es die Führung in den nächsten hundert Jahren nicht mehr abgeben.
    In der Zwischenzeit aber hatte diese Insel ihre völlig überflüssige Anwesenheit zu ertragen. Und in fünf Jahren, wenn die Hälfte das Zeitliche gesegnet hatte, standen neue Horden bereit, die frei gewordenen Hotelzimmer einzunehmen. Ich lief bis zum Ende der Fußgängerzone, von wo manin der Ferne einen blauen, schaumgekrönten Streifen des Meers sehen konnte. Hier öffnete sich eine Art Platz mit einem Handwerksmarkt, auf dem »lokaler« Nippes angeboten wurde.
    Ich fragte mich, was schlimmer war: der Aufblas-Zoo im Dunstkreis von abgestandener Tomatensoße, den ich hinter mir gelassen hatte, oder dieser Trödelmarkt, der unter dem Vorwand authentischer Volkskunst geflochtene Einkaufstaschen und Geldbeutel mit Lederbändchen statt Reißverschluss und noch größeren Mist an den Mann zu bringen versuchte.
    Nachdem ich einen

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