Odessa Star: Roman (German Edition)
Interesse sehr schnell. Den Sportteil überflog ich nur, ohne wirklich etwas zu lesen. Ein einziges Mal während dieser ersten Woche beschleunigte sich mein Puls extrem, als mein Blick auf das Foto einer Straße fiel, die große Ähnlichkeit mit der Pythagorasstraat hatte – doch es ging um die Renovierung einer Schule in Dordrecht. Oder war es Arnheim?
In der zweiten Woche kaufte ich mir täglich beide Zeitungen. Was erwartete ich eigentlich? Ich würde auf jeden Fall genauso reagieren wie jemand, dem plötzlich klar wird, dass zu Hause, in seiner eigenen Straße, etwas passiert ist, was Schlagzeilen gemacht hatte. Ich würde den Kopf schütteln, vielleicht sogar einen unterdrückten Schrei ausstoßen; dann würde ich, immer noch in ungläubigem Staunen den Kopf schüttelnd, den Zeitungsbericht ein paarmal lesen. Und dann? Dann würde ich mich hektisch nach dem Kellner umschauen, denn ich musste schnellstens ins Hotel zurück. In unserer Straße, würde ich unterwegs murmeln. Schlimmer noch, in unserem Haus! Das Haus auf dem Foto (wenn es denn ein Foto gab), das Haus auf dem Foto, das ist unser Haus. Was sollen wir machen? Müssen wir nicht sofort zurück? Wie merkwürdig, dass so etwas auf einmal ganz in der Nähe passiert. Im Parterre unseres eigenen Hauses. Wer tut nur so etwas? Eine alte Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tut …
Meine Frau lag im Liegestuhl am Rand des Swimmingpools, mein Sohn machte seiner Freundin eine Arschbombe vom Sprungbrett vor. Sie ahnten noch nichts von dem, was uns alle direkt betraf.
Nicht erschrecken, würde ich leise zu meiner Frau sagen und ihr den Telegraaf oder das Algemeen Dagblad aufgeschlagen auf den Schoß legen. Ich würde neben ihr stehen bleiben, während sie den Zeitungsartikel las; ich würde mir auf die Lippen beißen und um mich blicken, zu meinem Sohn und Nathalie im Swimmingpool. Müssen wir es ihnen jetzt sofort sagen?
Andererseits rechnete ich natürlich auch mit der Möglichkeit, dass Frau de Bilde es gar nicht in die Zeitung schaffen würde; oder wenn, dann nur in der Form einer von ihrer strohdummen Tochter aufgegebenen Todesanzeige: Nach einem langen, erfüllten Leben (…) von uns gegangen, und darunter der Name der einzigen Hinterbliebenen, Titia de Bilde … – oder? Sollte da etwa der Name des unbekannten Spermaspenders folgen? Der Name des Mannes, der sich in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit schlaflos in seinem einsamen Bett mit billigen und nicht mehr taufrischen Laken herumwälzte, weil er seine Liebste einfach nicht vergessen konnte?
Wer in der Pythagorasstraat eines »natürlichen Todes« starb, war keine Zeitungsnotiz wert. Man musste schon ein Medienfuzzi sein oder erschossen oder erstochen werden. Manchmal, wenn ich die Zeitungen auf der Terrasse in der Fußgängerzone von Cala Blanca durchgelesen hatte, schloss ich die Augen und stellte mir Frau de Bilde in ihrem Schlafzimmer vor, wie sie friedlich schnarchend in ihren Kissen lag – bis ein Geräusch sie weckte. Jemand ist an ihre Gehhilfe gestoßen. Und dann steht Richard H. mit seinem kahl geschorenen Schädel am Fußende ihres Bettes, nur vom Mondlicht beschienen, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereinfällt. Wer sind Sie …? Was machen Sie in meinem Schlafzimmer …? Der gefleckte Hund hebt den Kopf vom Schaumgummi, der ihm als Korb dient, und fängt an zu bellen … Kein Grund zur Aufregung, Gnädigste (Richard H.s Stimme) … Schau mal, Harras, was ich dir mitgebracht habe …
An diesem Punkt angelangt, öffnete ich wieder die Augen, faltete die Zeitungen zusammen und machte mich auf den Rückweg. Zwei Wochen vor unserer Abreise nach Menorca, als Max und ich uns über die Balkonbrüstung lehnten, hatte ich ihm die Reserveschlüssel zu unserer Wohnung gegeben. Und in der Küche hatte ich ihm den Haken neben der Balkontür gezeigt, an dem der Reserveschlüssel für die Parterrewohnung hing – für den Fall, dass … Der Schlüssel war mit einem schwarz gerahmten Etikett versehen, auf dem mit Kuli »Parterre« stand; als Besitzer hatte ich schließlich das Recht, mir Zugang zur Wohnung meiner Mieterin zu verschaffen, etwa im Fall eines Rohrbruchs. Doch über die Verwendung der Schlüssel hatten Max und ich nicht geredet.
Als ich an einem Nachmittag unserer zweiten Woche aus Cala Blanca zurückkam, traf ich meine Frau und meinen Sohn vor dem Fernseher an. »Eine Concorde ist in der Nähevon Paris abgestürzt«, sagte David, ohne den Blick vom
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