Odessa Star: Roman (German Edition)
mehr wie ein Hund in einem Film, der ganz allein den weiten Weg zurück nach Hause sucht. Ich wandte den Blick ab.
»Es ist natürlich vollkommen unwichtig«, sagte ich und schob den Teller mit meinem Nudelsalat von mir. »Ich werde mal gucken, ob ich noch etwas Anständiges auftreiben kann.«
Ich ging zu dem Teil des Büfetts, der am wenigsten belagert wurde. Als ich mich umblickte, sah ich, wie mein Sohn den Arm um Nathalie legte; sie drückte eine Serviette an die Augen.
»Nehmen Sie sich noch was?«, fragte ein zwergenhafter Herr in einem braun-gelb karierten Pullover und legte mir die Hand auf den Arm. Ich sah von der Hand, die sehr stark behaart war, zu seinem Gesicht. Er zog die Hand zurück, murmelte etwas und verdrückte sich.
Als ich mit einem Teller mit zwei Hühnerkeulen und einer lauwarmen, schlaffen Tomate an den Tisch zurückkam, waren David und Nathalie verschwunden, und als ich mich hinsetzte, schob auch Christine ihren Stuhl zurück. »Ich gehe mal zum Strand«, sagte sie; ich grub meine Zähne indie knusprige Keule. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie. »Nein, echt, du hast dich selbst übertroffen.«
Sie zögerte. »Wie machen wir das mit dem Zimmer?«
»Welches Zimmer?«, fragte ich der Form halber.
»Das Schlafzimmer. Von dem wir dachten, es gäbe zwei. Ich meine, lassen wir sie einfach zusammen in einem Zimmer schlafen? Oder soll einer unten auf die Couch …?«
Ich tat, als würde ich die Hühnerkeule einer gründlichen Inspektion unterziehen. »David ist vierzehn. Und wie alt ist sie?«
»Dreizehn.«
»Das ist genau das richtige Alter.«
2
Am nächsten Morgen war der Frühstückssaal nahezu leer – und auch auf dem Büfett herrschte gähnende Leere, wie ich zu meinem Bedauern feststellen musste. Die belgischen Senioren hatten offenbar schon in aller Herrgottsfrühe ordentlich zugelangt, denn in den Terrinen waren nur noch die armseligen Reste des Rühreis und eine einsame angebrannte Speckrolle übrig geblieben. Körbe, die um sieben Uhr zweifellos noch mit Croissants und knusprigen Brötchen gefüllt gewesen waren, enthielten jetzt nur noch Krümel. Als hätte sich ein Heuschreckenschwarm satt gegessen und wäre weitergezogen.
Aus einer Thermoskanne goss ich mir eine Tasse mit lauwarmem Kaffee voll, nahm aus einem Korb ein in Folie eingewickeltes rosa Gebäck, das die belgischen Alten offenbar verschmäht hatten, und setzte mich an einen der wenigen Tische, die nicht mit Essensresten übersät waren. Aus einem Lautsprecher hinter einer Aralie ertönte südlich angehauchte Musik.
Außer mir waren nur noch eine ältere Frau und ein zu dicker Junge da, sie saßen sich hinten im Saal an einem Tisch gegenüber. Die Frau hielt sich eine Zeitschrift vors Gesicht, der Junge hatte seine Gabel in ein Croissant gepflanzt, offenbar das letzte, das die Frühstücksattacke überlebt hatte.Der Junge saß erst ganz still da, verrenkte dann jedoch von einem Moment auf den anderen unkontrolliert die Glieder und wiegte sich vor und zurück.
Auf dem Weg zu meiner zweiten Tasse Kaffee machte ich einen kleinen Umweg an dem Tisch vorbei. Der Junge versuchte gerade, mit seinem Messer ein Stück vom Croissant abzuschneiden. Nach jedem missglückten Versuch stieß er einen Schrei aus, der mir durch Mark und Bein ging. Sein Mund hing schlaff herab, an der Nase klebte ein grünlicher Klumpen Rotz von der Größe einer Murmel.
Wie bei allen Menschen mit Downsyndrom war sein Alter schwer einzuschätzen, vielleicht war er achtzehn, aber genauso gut konnte er zweiunddreißig sein. Sein Kopf war auf eine stumpfsinnige Weise viel zu rund, das Haar war dünn, an vielen Stellen schien die Kopfhaut durch, und die Glupschaugen gaben seinem aufgedunsenen Gesicht zwar einen ungefährlichen, aber vielleicht deshalb umso abstoßenderen Ausdruck. Die alte Frau war immer noch in ihre Zeitschrift vertieft, sie hielt sie so, dass sie die aussichtslose Stümperei des Jungen nicht zu sehen brauchte. Es war eine spanische Zeitschrift, wie ich im Vorbeigehen feststellte, die ¡Hola! , ein Blatt, spezialisiert auf Nachrichten und Fotos von königlichen Familien, Filmstars und den Schönen und Berühmten im Allgemeinen.
Rein theoretisch war es natürlich durchaus möglich, dass die Frau ebenfalls aus Belgien kam – aus einem Gebiet mit Industrie und Luftverschmutzung –, aber die Tatsache, dass sie noch keine Seite umgeblättert hatte, legte die Vermutung nahe, dass sie nicht nur die Fotos betrachtete, sondern auch alle
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