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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Boulevard überquert hatte, trennten mich nur noch ein paar Felsen vom Meer. Zu dieser Uhrzeit regte sich nichts in der unendlich blauen Weite: kein Boot, kein Schwimmer, nicht das bunte Segel eines Windsurfers – rein gar nichts. Wenn ich mir die hinter mir liegende Hölle von Cala Blanca wegdachte, sah es hier noch genauso aus wie zu der Zeit, als die Segel der »phönizischen Händler« am Horizont auftauchten; und genauso würde es auch nach einem totalen Atomkrieg wieder aussehen. Ich kniff die Augen zu und stellte mir den Lichtblitz vor und den bis zum Himmel reichenden Atompilz. Als ich die Augen wieder öffnete, war der Atompilz weg und alles so, wie es sein sollte.
    Ich überlegte mir, dass Cala Blanca in einem totalen Atomkrieg ein eher nachrangiges Angriffsziel sein würde und daher der Nippes-Markt verschont bleiben und ausgerechnet betagte Belgier und Engländer die glücklichen Überlebenden einer solchen globalen Aufräumaktion sein würden, ein ziemlich unerträglicher Gedanke. Nach einem letzten Blick auf das Meer spazierte ich auf einem großen Umweg zurück zum Hotel.
     
    Im Außenbereich der Apartmentanlage hatten es sich eine ganze Reihe von Leuten in den Liegestühlen am Pool bequem gemacht; meine Frau trug einen schwarzen Badeanzug, sie hatte die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben, auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch mit dem Rücken nach oben. Ich legte einen Zahn zu, um ungesehen in unser Apartment zu gelangen, als ich hinter mir rasche, nasse Schritte hörte.
    »Herr Moorman! Herr Moorman!« Ich drehte mich um und sah in Nathalies von Wassertropfen triefendes Gesicht; ihr nasses Haar hing in Strähnen an ihren Wangen herab und kräuselte sich auf Höhe ihres Mundes nach innen. »Herr Moorman …« Sie blieb keuchend stehen und steckte sich eine Haarlocke zwischen die Zähne.
    »Ja …«
    Sie biss sich auf die Lippen und schlug die Augen zu Boden. »Ich wollte Ihnen sagen …«, fing sie an. »Ich habe gestern …«
    Ich machte eine abwehrende Handbewegung und sagte rasch: »Ach, das sollten wir vielleicht lieber ruhen lassen.«
    »Nein, das meine ich nicht«, sagte sie. »Ich … Ich war etwas ungerecht zu Ihnen.«
    Ich schwieg; eigentlich hätte ich jetzt den Blick senken müssen, aber mit äußerster Willensanstrengung gelang es mir, ihr weiterhin gerade ins Gesicht zu sehen.
    »Sie hatten vielleicht ein bisschen recht, was Sie über die Belgier gesagt haben. Ich meine, ich habe zu impulsiv reagiert. Ich weiß nicht, ich bin es nicht gewohnt, dass jemand über andere redet, als wären sie gar keine Menschen. Ich meine …« Sie wurde rot.
    »Was für ein Unsinn«, sagte ich. »Ich bin einfach ein alter Miesepeter, der immer was zu nörgeln hat. Du musst dir nichts daraus machen. Und du sollst nicht immer »Sie« zu mir sagen. Das macht mich ganz traurig.«
    »Entschuldigung, Herr Moor … ach, schon wieder! Entschuldigung … Fred. Ich möchte einfach nicht … ich findeSie sehr nett. Sie sind Davids Vater. David redet immer sehr liebevoll von Ihnen.«
    Etwas, das stärker war als ich, ließ meinen Blick nach unten wandern, von ihrem nassen Gesicht über ihren nassen Badeanzug und ihre nassen Beine bis zu ihren dicht nebeneinanderstehenden kleinen, nackten Füßen. Gerade, als ich dort angekommen war, wippte sie auf ihren Zehen: kleine nasse Fußabdrücke blieben auf der Steinplatte zurück.
    »Du …« Ich hob den Kopf und sah sie an. »Du bist ein Schatz«, sagte ich. »Und du darfst nicht auf die Geschichten eines alten Sauertopfs hören. Dafür bist du einfach viel zu jung. Das wollte ich wirklich nicht. Das nächste Mal erzähle ich etwas Lustiges, das verspreche ich dir.«
    »Aber …«
    Ich legte den Finger auf die Lippen. »Psst. Geh wieder zum Pool, Nathalie. Ich mache mal ein Nickerchen.«

3
    Die nächsten Tage verliefen mehr oder weniger, wie Urlaubstage auf einer sonnigen Insel eben verlaufen. Nach dem Frühstück gingen meine Frau, mein Sohn und Nathalie ans Meer oder zum Pool; ich machte einen Spaziergang durch Cala Blanca und kaufte abwechselnd den Telegraaf und das Algemeen Dagblad am ersten Kiosk in der Fußgängerzone. Dann setzte ich mich an einen der Plastiktische zwischen die beans and eggs mampfenden Engländer, bestellte einen Kaffee und ein agua con gas und blätterte die Zeitung durch. Erst ab Seite 3, bei den Lokalnachrichten, machten sich die ersten körperlichen Symptome bemerkbar: feuchte Hände und trockene Lippen. Ab Seite 8 erlosch mein

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