Odessa Star: Roman (German Edition)
Bildschirm abzuwenden.
Ich legte die zwei Zeitungen mit den plötzlich extrem veralteten Nachrichten auf die kleine Theke der offenen Küche und ließ mich neben meinem Sohn auf das Sofa fallen.
Auf dem Bildschirm erschienen nun neben dem CNN -Logo in fetten Lettern die bei Krieg und Katastrophen üblichen BREAKING NEWS . Rauch kräuselte sich aus einer aus der Luft gefilmten verkohlten Stelle in einem typischen nordfranzösischen Kornfeld, um das sich schon mehrere Feuerwehrautos und Krankenwagen versammelt hatten. Kurz darauf sah man die Concorde tief über Häuserblocks fliegen: Flammen, noch länger als die Maschine selbst, schlugen aus dem hinteren Teil.
Ich sah meine Frau von der Seite an; sie hatte den Arm um Davids Schulter gelegt und biss sich auf die Lippen, in ihren Augen funkelten Tränen.
»Wo ist Nathalie?«, fragte ich.
CNN zeigte jetzt eine Concorde der Air France über den Wolken. Kleine weiße Lettern oben links teilten mit, dass es sich um Archivbilder handelte.
»Am Swimmingpool«, sagte David.
Ich unterdrückte die naheliegende Frage, ob die Nachrichten über den Absturz einer Concorde nicht Anlass genug seien, den Swimmingpool mal einen Moment zu vergessen.
Nachdem wir eine halbe Stunde vergeblich auf neue Bilder gewartet hatten, stand ich auf und verließ das Apartment. Es waren nur wenig Leute beim Pool: Nathalie stand bis zu den Knien im Wasser und warf gerade jemandem einen Ball zu, der sich in der Nähe des Sprungbretts aufhielt und von dem nur der Kopf aus dem Wasser schaute.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, dass es der Mongo war. Langsam ging ich um das Becken herum.Mit einem merkwürdigen Schrei tauchte der Junge nach dem Ball. Nathalie machte einen kleinen Sprung und schüttelte das Haar, ein feiner Nebel aus Tropfen sprühte nach allen Seiten; irgendwo müsste jetzt eigentlich ein Regenbogen zu sehen sein.
»Fred!« Sie winkte. »Komm doch auch rein!«
Ich ging bis zum Beckenrand und lehnte mich an die Leiter, grinste aber nur und schüttelte den Kopf. Ein paar Meter entfernt saß, wie ich plötzlich entdeckte, die Großmutter in einem Liegestuhl im Schatten einer Palme, ihr Kopf hing schief, sie war offensichtlich eingeschlafen. Im Gras zu ihren Füßen lag eine Zeitschrift.
Als ich näher kam, durchfuhr sie ein leichter Schauder, sie strich sich über das Kleid und nieste im Schlaf. Ich blieb stehen und blickte auf die Stelle, wo ihre in braunen, fast undurchsichtigen Strümpfen steckenden Beine unter dem Rocksaum verschwanden, und dachte an den Spanier, der ihr irgendwann einmal das Kleid hochgeschoben hatte und somit letztendlich für den mongoloiden Enkel verantwortlich war. Nicht gerade eine Ruhmestat. Als ich mich nach der Zeitschrift bücken wollte, öffnete die Frau die Augen. Sie starrte mich eine Sekunde lang an, dann flog ihr Blick zum Swimmingpool.
»Sie haben das hier fallen lassen«, sagte ich auf Niederländisch.
»Gracias. Muchas gracias.«
Ich folgte ihrem Blick. Der Ball war in den Sträuchern gelandet. Der Junge zog sich am Beckenrand hoch, seine Badehose rutschte ihm dabei etwas herunter und entblößte einen dunklen Strich zwischen den Pobacken. Als er oben stand, sah er sich verstört nach allen Seiten um.
»Da hinten!«, rief Nathalie und zeigte mit der Hand. »Nicht da …! Da, ja …! Bravo! Bravo!«
Als er triumphierend mit dem Ball aus den Sträuchernkam, sah ich zu der Großmutter hin, die mit ihrer ¡Hola! auf dem Schoß wie ich die Szene beobachtet hatte. Ich hatte mit einem gerührten Lächeln gerechnet oder sonst einem Zeichen der Freude darüber, dass ihr schwachsinniger Enkel einen Spielkameraden gefunden hatte, deshalb erschrak ich aufrichtig, als ich die Tränen in ihren Augen sah und die Verzweiflung, mit der sie den Kopf schüttelte, um sich fast unmittelbar darauf wieder in ihre ¡Hola! zu vertiefen. Sie sah nicht mehr, wie ihr Enkel mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, mit einer hohen Fontäne im Wasser verschwand.
4
Ein paar Tage vor unserer Abreise wurde mein Mittagsschlaf am Swimmingpool durch einen glitschigen Plastikball beendet, der auf meinem Bauch landete und von dort auf den Rasen fiel. Ich öffnete die Augen und nahm den Mongo wahr, der mir ganz hinten aus dem blauen Wasser zuwinkte. Er rief etwas auf Spanisch – das heißt, es waren Laute, die in ganz elementarem Sinne aus dem Spanischen entlehnt sein mussten – und zeigte auf den Ball.
Erst tat ich so, als hätte ich ihn
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