Odice
dich bei deinem Namen nennen. Ist das für dich ein annehmbares Arrangement?«
»Werden Sie den ganzen Abend über dabei sein?«
Julien runzelte die Stirn, als habe sie eine ganz und gar überflüssige Frage gestellt.
»Aber natürlich, Odice. Glaubst du ernsthaft, ich würde dich an einem solchen Abend auch nur einen einzigen Moment aus den Augen lassen?«
Odice überschlug die Beine und stützte die rechte Hand auf der Tischplatte auf.
»Ich will offen mit Ihnen sprechen, Monsieur de Lautréamont. Ich bin als Inhaberin einer erfolgreichen Galerie für zeitgenössische Kunst in Paris eine öffentliche Person. Es ist also nicht auszuschließen, dass die Herren und ich einander bekannt sind. Ich muss mich in Bezug auf die Wahrung meiner Anonymität absolut auf Sie verlassen können.«
»Willst du ihr dieses respektlose Verhalten etwa durchgehen lassen, Bruder?«
Odice fuhr herum. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Eric die Terrasse betreten hatte. Nun stand er schräg hinter ihr.
»Das klingt ja eher, als würdet ihr ein Geschäftsgespräch führen, als wie die Instruktionen einer Sklavin. Direkter Blickkontakt, ein aufsässiger Ton, geschlossene Knie – das sind schon drei Vergehen auf einmal.« Und zu Odice gewandt fügte er hinzu: »Wir werden uns an die Abmachungen halten. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
»Eric hat Recht.« Julien straffte sich. »Ich werde dich für deinen Ungehorsam bestrafen müssen.«
Man hätte meinen können, es täte ihm ehrlich leid, das zu sagen, und er täte es nur um Erics Willen, wäre da nicht dieses verräterisch süffisante Zucken um seine Mundwinkel gewesen.
Er rief nach Sada, die sogleich im Türrahmen erschien.
»Bitte sei so gut und bring Odice ins Turmzimmer und sorge dafür, dass sie mich empfängt, wie man es von einer gefügigen Sklavin erwartet.«
» Oui, Monsieur .« Die Japanerin nickte knapp und bedeutete Odice, ihr zu folgen.
Vom zweiten Stockwerk aus führte eine edelhölzerne Wendeltreppe hinauf in das Obergeschoss, dessen schöne Laubenfenster Odice bisher nur von außen gesehen hatte. Das Château war riesig, verwinkelt und besaß so viele Räume, dass man sich problemlos verlaufen konnte. Odice hatte Mühe, mit Sadas sputigem Schritt mitzuhalten, registrierte aber das dunkle Parkett und den seidigen roten Läufer, die den Boden des langen Korridors zierten, durch den sie jetzt gingen. An den Wänden waren kristallene Wandkerzenhalter angebracht, die den langen Flur mit warmem elektrischem Licht versorgten. Zwischen den Leuchtern hingen Lithographien, aber auch Originalzeichnungen von französischen Symbolisten wie Gustave Moreau und Odilon Redon sowie von dem Surrealismus zuzurechnenden Künstlern wie André Masson und Salvador Dalí. Auf den ersten Blick war deutlich, dass es sich bei den ausnahmslos hochästhetischen Werken ausschließlich um erotische, aber nicht um pornographische Motive handelte. Gern hätte sich Odice diese interessante Bildergalerie etwas genauer angesehen, doch Sada bog bereits um die nächste Ecke.
Endlich blieb die Japanerin vor einer holzvertäfelten Rundbogentür stehen und fischte ein Schlüsselbund aus der Tasche ihres schwarzen Pencilskirts. Odice erwartete, nun die Folterkammer des Herrenhauses kennenzulernen und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Eigentlich hatte sie zwar damit gerechnet, dass sich die wirklich schlimmen Räume irgendwo im Keller befanden, doch auch hier war man ziemlich weit weg von den eigentlichen Wohnräumen.
Was sich hinter der Tür verbarg, war aber keine Folterkammer, wie Odice sie bei ihrer Recherche im Internet zuhauf gesehen hatte. Keine Spur von offen zur Schau gestellten Marterwerkzeugen und fragwürdigem Mobiliar. Odice atmete auf. Vielmehr handelte es sich um den Raum mit dem wohl privilegiertesten Blick des ganzen Hauses. Es war tatsächlich das Turmzimmer, das mit seiner sechseckigen Grundfläche und den großen Fenstern einen annähernden Rundumblick über das Anwesen mit seinen riesigen Parkanlagen erlaubte und man konnte sogar bis zur Loire schauen.
Auch hier gab es einen alten, sorgfältig verlegten Parkettboden; die Wände allerdings waren nicht verputzt, sondern bestanden aus rohem Stein. Außerdem waren die Wandkerzenhalter nicht elektrisch bestückt, sondern ganz archaisch mit weißen Tropfkerzen und links und rechts jedes Leuchters hingen keine Graphiken, sondern erotische Schwarz-Weiß-Fotografien von Man Ray. Bis auf einen großen runden Teppich aus gewachsenem
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