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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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dämmern begann, sahen sie am Horizont die Firste von Kristiansfjord. Der Fischer Ambrosius drosselte das Tempo der Rikke-Marie, und nachdem sie eine kleine Halbinsel umrundet hatten und auf die windgeschützte Seite gekommen waren, stellte er den Motor aus.
    »Wir gehen vor Anker«, sagte er. »Obwohl die Rikke-Marie nicht wie sie selbst aussieht, ist es zu riskant, näher an den Hafen heranzufahren.«
    Sie hatten den Namen Rikke-Marie mit Sand und Tang überschmiert, sodass er nicht länger lesbar war, die Fahrzeugnummer gefälscht und das orangene Steuerhaus und die Reling rot übermalt. Trotzdem riskierten sie, von wohlmeinenden Menschen, die den wiederholten Appell der südnordischen Regierung gehört hatten, erkannt zu werden. Den Radionachrichten zufolge verschlechterte sich die Lage in Fredenshvile Tag für Tag. Sie aßen schweigend ihr Mittagessen, und sobald sie fertig waren, ließ der Fischer Ambrosius das Rettungsboot ins Wasser und kletterte die Strickleiter hinunter. Harald Adelstensfostre gab
Sigbrit Holland und Odin zum Abschied kurz die Hand, dann verschwand er hinter dem Fischer über die Reling.
    »Ich glaube, die Zeit ist gekommen, dass dieser Veterinär und ich nach Smedieby und zu Rigmarole zurückkehren«, sagte Odin, als das Rettungsboot mit seinen zwei Passagieren aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.
    Sigbrit Holland schüttelte den Kopf und atmete mehrmals tief durch. Sie drehte sich um und ging zusammen mit Odin zurück in die Wärme des Steuerhauses.
    »Odin, ich sollte Ihnen wohl besser sagen, dass es noch eine Weile dauern kann, bis wir einen Veterinär für Ihr Pferd gefunden haben«, sagte sie.
    Odin zog an seinem Bart und überdachte die Situation.
    »Wenn Veterinär Martinussen solche Schwierigkeiten hat, die Vorschriften zu erfüllen und Herr Bramsentorpf nicht mit den Formalitäten fertig wird und der hervorragende nordnordische Veterinär nicht dort ist, wo man hinreisen sollte, sollten wir vielleicht einen dritten Veterinär finden?«, sagte er optimistisch. »Denn ich bin wahrlich nicht wenig in Eile.« Er drehte den Bart um die Finger. »Auch wenn ich mich im Moment weder erinnern kann, was vor Smedieby und dem Meteorsturm war, noch was die Unheilsbotschaften besagten, bin ich doch sicher, dass sie keine weitere Verspätung erfahren sollten.«
    Plötzlich standen Tränen in Sigbrit Hollands Augen, und Odin legte eine Hand auf ihren Arm.
    »Sehen Sie«, sagte er tröstend. »Die Unheilsbotschaften sind vielleicht gar nicht so schlimm. Nein, ich bin wahrlich davon überzeugt, dass es keinen Grund gibt, deswegen zu weinen.«
    »Aber Odin, einen Veterinär zu finden, ist nur eins unserer Probleme«, rief Sigbrit Holland. »Ein anderes ist, einen zu finden, der bereit ist, Sie zu der Insel zurückzubegleiten. Aber das größte Problem ist, dass wir noch immer keinen Weg gefunden haben, wie wir Sie und Ihren Veterinär und… den Fischer Ambrosius zu der Insel bringen können.«
    Sorgfältig strich Odin seinen Bart glatt. Er hatte allmählich verstanden, dass die Einwohner des Kontinents selbst dann, wenn sie mit Herz und Hirn nachdachten, das Meer nicht zufrieren
konnten, und dass er und der Veterinär und der Fischer Ambrosius nicht auf dem gleichen Weg zurück zu der Insel gelangen konnten, auf dem er vor langer Zeit in einem furchtbaren Schneesturm gekommen war. Aber dass sie keinen anderen Weg zu finden vermochten, das verstand er nicht.
    »Weisheit ist es, was wir am nötigsten brauchen«, sagte er schließlich und nickte, wie um seine Worte zu bekräftigen. Dann nickte er noch einmal und fiel in einen tiefen Schlaf.
    Sigbrit Holland sah ihn traurig an. Es bestand kein Zweifel, dass sie Weisheit benötigten. Leise, um Odin nicht zu wecken, holte sie das erste der Frachtbücher hervor und ging die Kolonnen mit Vorräten, Daten und Preisen durch. Aber kaum hatte sie begonnen, als sie das Buch auch schon wieder schloss. Sie hatten in den Tagebüchern nichts Brauchbares gefunden, und sie hatte kein großes Vertrauen in die Frachtbücher. Sie gähnte, zog sich eine Jacke an und ging nach draußen, um auf den Fischer zu warten. Die Lichter von Kristiansfjord kamen ihr nah und fern zugleich vor, fast wie die Sterne über ihrem Kopf. Es war ein ruhiger Abend, die Rikke-Marie schaukelte leise vor sich hin, und es dauerte nicht lange, bis sie den schwachen Laut von Rudern hörte, die auf das Wasser schlugen. Einen Moment später kletterte der Fischer Ambrosius die Strickleiter

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