Odins Insel
merkwürdig an dieser Geschichte. Sigbrit Holland war überzeugt, dass Odin die Wahrheit sagte, jedenfalls die Wahrheit, wie er sie kannte, und gleichzeitig wusste sie, dass es die Insel, von der er sprach, nicht gab.
»Sie haben gesagt, dass Ihr Pferd sich ein Bein gebrochen hat. Soweit ich weiß, ist es sehr schwierig, das Bein eines Pferdes zu heilen. Sie können mir nicht vielleicht sagen, wo es gebrochen ist?«, fragte sie, um Odins Geistesgaben auf eine andere Weise zu prüfen.
Odins Gesicht hellte sich auf. Endlich war da jemand, der sich für Rigmarole interessierte, und er begann mit einer langen und detaillierten Beschreibung, wo er die beiden Brüche in dem Bein seines unglückseligen Pferdes festgestellt hatte, und fügte schließlich noch hinzu, dass Ida-Anna nach Rigmarole und Baltazar, seinem anderen Pferd, sah, während er auf dem Kontinent war, um den Veterinär zu holen. Dann beschrieb er Smedieby und natürlich Posthusby, nicht zu vergessen, und all die Leute, die er kannte: den Schmied und die alte Rikke-Marie und den Bäcker und Mutter Marie, die die Mutter von Ida-Anna und Ingolf war, und Onkel Eskild, dessen Gehör einiges zu wünschen übrig ließ, und den langen Laust aus Posthusby, der ihm als Erster erzählt hatte, dass das Meer zugefroren war.
Auch wenn es sonderbar klang, macht alles doch zu sehr Sinn, um reines Phantasiegespinst zu sein, dachte Sigbrit Holland. Und es konnte durchaus stimmen, dass Odin den ganzen Tag durch den Schneesturm gewandert war, als sie ihn getroffen hatte, so verfroren, wie er gewesen war. Sie sah auf ihre Uhr und stand eilig auf.
»Hören Sie«, sagte sie ein wenig nervös. »Ich muss jetzt gehen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich werde tun, was ich kann, um der Sache auf den Grund zu gehen. In ein paar Tagen komme ich wieder.«
Der sehr dünne, sehr kahlköpfige Mann, der während Sigbrit Hollands Gespräch mit Odin ganz still gesessen hatte, sprang auf und rief:
»Ich habe auch ein Pferd! Ich habe auch ein Pferd!« Dann glitt er auf den Boden und begann flehentlich zu schluchzen, während er mit geballten Fäusten auf das braune Linoleum einschlug. Zwei Krankenpfleger kamen gelaufen, und während der eine den unruhigen Patienten festhielt, gab der andere ihm eine Spritze mit etwas, das sehr effektiv sein musste, da es das Weinen umgehend in ein leises Schluchzen verwandelte.
Sigbrit Holland schauderte. Sie konnte den kleinen alten Mann nicht in diesem Irrenhaus lassen.
Nachdem die Türen hinter seinem Gast zugefallen waren, ging Odin in den Fernsehraum, wo die meisten anderen Patienten gebannt vor einem Fußballspiel saßen. Einige Minuten sah auch Odin auf den rechteckigen Bildschirm, auf dem zweiundzwanzig klitzekleine Männer in kurzen Hosen einem kleinen Ball hinterherjagten, den sie von sich wegschossen, sobald es ihnen gelungen war, in seine Nähe zu kommen. Das ist an sich schon bemerkenswert, dachte Odin, aber noch bemerkenswerter ist, dass die zweiundzwanzig Männer im klaren Sonnenschein auf dem grünen Rasen herumlaufen. Er sah sich um, aber keiner seiner Mitpatienten schien sich über etwas zu wundern, und nachdem er einige Zeit darüber nachgedacht hatte, musste Odin einfach fragen:
»Aber wo ist der ganze Schnee geblieben?«
Ein riesiger Mann mit einem riesigen Kopf, der mindestens einhalbmal größer als der des Schmieds war, drehte sich in seinem Stuhl um und starrte Odin böse an.
»Wie meinen Sie das, wo ist der ganze Schnee geblieben ?«, raspelte der Mann mit dem riesigen Kopf. Er hieß Gunnar, und nicht nur sein Kopf war ein gut Teil größer als der des Schmieds, auch er selbst war ein gut Teil breiter und ein gut Teil größer als jeder, der jemals einen Fuß in die geschlossene Abteilung für Geisteskranke des Zentralkrankenhauses gesetzt hatte. Und Gunnar liebte Sport. Deshalb wurde nie etwas anderes im Fernsehen gesehen. Und was Gunnar gar nicht liebte, war, mitten in einem Fußballspiel gestört zu werden. Nur ein Neuankömmling konnte das nicht wissen.
Eine nervöse Stille breitete sich im Fernsehraum aus. »Ja, vor ein paar Tagen bin ich in einen wahrlich Grauen erregenden Schneesturm geraten, und sehen Sie, da ist gar kein Schnee.« Odin zeigte auf den Bildschirm, ohne den scheelen Blick des großen Mannes zu bemerken.
Gunnar drehte seinen riesigen Kopf und folgte mit den Augen Odins Finger.
»Das ist doch in Brasilien, du Idiot!«, brüllte er.
»Nicht doch«, sagte Odin freundlich. »Es besteht kein
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