Odins Insel
Grund zu schreien. Ich bin vielleicht alt, aber ich bin nicht taub.«
Die Spannung im Fernsehraum stieg, und mehrere Patienten schlichen sich hinaus, während andere das Schicksal herausforderten und die Kühnheit des Neuankömmlings um nichts in der Welt verpassen wollten.
»Du bist neu hier, was?« Gunnar stand mit einem verschmitzten Grinsen von seinem Stuhl auf. Auch Odin erhob sich, da er das für das Höflichste hielt. Sofort verblasste Gunnars Grinsen – so ein Schwächling würde nicht einmal einer Feder Widerstand leisten können.
Mit langsamen Schritten ging Gunnar zum Fenster hinüber, wo Odin stand. Und eifrig bemüht, den Einwohnern des Kontinents seinen guten Willen zu zeigen und ihren Sitten seinen Respekt zu erweisen, trat auch Odin vor, während er versuchte, den rechten Arm genauso zu halten, wie der Mann ihm gegenüber. Was Odin nicht wissen konnte, war, dass Gunnar nicht nur ein großartiger Schmied, sondern auch ein großartiger Fußballspieler gewesen war, der der Landesmannschaft zu vielen Siegen verholfen hatte. Aber eines Tages, als Gunnar versucht hatte, einen Ball zu fangen, war er mit dem Kopf mit einem anderen Spieler zusammengestoßen, und seitdem war er der unabänderbaren Meinung, dass sein Kopf ein Fußball war, den er mit sich herumtragen musste, wohin er auch ging.
Als Gunnar jetzt sah, dass Odin auf die gleiche Weise die Hand in die Seite stemmte wie er, blinzelte er einige Male und brach dann in ein herzhaftes Gelächter aus, während er sich mit seiner freien linken Hand auf den Schenkel klopfte.
»Kamerad«, lachte Gunnar glucksend. »Das hätte ich wissen
sollen. Es tut mir Leid, Kamerad.« Er schlug Odin in aller Freundschaft auf die Schulter, jedoch mit genug Kraft, dass dieser mehrere Meter durchs Zimmer schlitterte.
»Du hast wohl so einen auf die Birne gekriegt, was?« Gunnar hatte aufgehört zu lachen und zeigte auf Odins fehlendes linkes Auge. Dann streckte er die Hand aus.
»Gunnar, Gunnar der Kopf«, stellte er sich stolz vor und drückte Odins Hand, dass der kleine alte Mann laut stöhnte.
Gunnar der Kopf setzte sich wieder auf seinen Stuhl und Odin auf seinen breiten Schoß. Die anderen Patienten starrten sie sprachlos an.
»Was glotzt ihr so? Ihr habt wohl noch nie erlebt, dass ein Mann einen alten Kameraden trifft? Haltet den Mund und lasst die anderen den Rest des Kampfes in Frieden sehen.« Gunnar der Kopf legte einen Arm um Odin, um sicherzugehen, dass sein Kamerad gut saß.
Sigbrit Holland besuchte Odin in der darauf folgenden Woche wieder, aber sie brachte keine guten Neuigkeiten. Sie hatte die Ärzte im Zentralkrankenhaus angerufen und angeschrieben, und als das nicht half, Kontakt zum Krankenhausdirektor aufgenommen, und als der Krankenhausdirektor ihr nicht helfen konnte, hatte sie einen Anwalt aufgesucht. Doch alles war vergebens gewesen. Die Ärzte waren im Recht: ein Individuum, das sein eigenes oder das Leben anderer aufs Spiel setzte, konnte von den Behörden so lange zwangseingewiesen werden, wie es notwendig erschien. Sigbrit Holland war nicht der Meinung, dass Odin für irgendjemanden eine Gefahr darstellte, aber die Ärzte beharrten darauf, dass er bereits einmal sein Leben in Gefahr gebracht hatte und da er noch immer nicht die geringste Idee zu haben schien, wer oder wo er war, würde er das höchstwahrscheinlich wieder tun.
Sigbrit Holland gab es auf, von den Behörden Hilfe zu erwarten, und begann stattdessen nach Verwandten von Odin zu suchen. Wenn ein Verwandter die Verantwortung für sein Wohlergehen übernahm, hatte er das Recht, auf der Entlassung Odins zu bestehen. Aber es gab niemanden – weder in Südnorden noch
in den übrigen nordischen Ländern –, der mit Nachnamen Odin hieß. Nicht einmal in der Ausländerbehörde hatte man je diesen Namen gehört.
In der Zwischenzeit hatte die Polizei ein gewisses Interesse für den Fall Odin zu zeigen begonnen. Sie hegte den Verdacht, dass Odin ein illegaler Einwanderer war, der sich, nur um Asyl in Südnorden zu bekommen, ein phantastisches Märchen von einem Meteorsturm, von Pferden mit gebrochenen Beinen, merkwürdigen Botschaften und nicht existierenden Inseln ausgedacht hatte. Das südnordische Volk war weit und breit für seine große Toleranz gegenüber Ausländern aus allen Ecken der Welt bekannt, aber mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und der steigenden Anzahl von Immigranten war diese berühmte Toleranz bemerkenswert gesunken. Deshalb bestand kein Zweifel, dass die
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