Odins Insel
haben.«
Sigbrit Holland überdachte die Situation. Sie kam ihr genauso verworren vor wie zuvor.
»Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie.
Der Fischer Ambrosius strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn und setzte sich.
»Was bringt man euch jungen Leuten heutzutage eigentlich in der Schule bei? Offensichtlich nicht, den Kopf zu gebrauchen. Alles müssen wir euch sagen. Alles!« Er zögerte, als würde er über etwas nachdenken, dann lehnte er sich vor und sah Sigbrit Holland scharf an. »Wenn wir Ihnen jetzt sagen, was Sie tun sollen, müssen Sie uns versprechen, den kleinen alten Mann mit hierher zu bringen. Wir können Ihnen nicht sagen, warum, aber wir möchten ihn gerne treffen.«
Sigbrit Holland nickte.
»Rufen Sie im Justizministerium an. Verlangen Sie den Minister zu sprechen.«
»Sie werden mich nie zu ihm vorlassen!« So einen albernen Vorschlag hatte Sigbrit Holland nicht erwartet.
»Warten Sie ein wenig, holde Frau. Sie sind viel zu ungeduldig. Lernen die jungen Leute heute keine Tugenden mehr?«
Sigbrit Holland errötete, aber der Fischer wirkte nicht so aufgebracht, wie seine Worte vermuten ließen.
»Hören Sie, wenn Ihnen jemand Steine in den Weg legt, sagen Sie einfach, dass Sie von der Insel ohne Namen wissen und dass es dem Minister sehr Leid tun wird, wenn er erfährt, dass Sie abgewiesen worden sind. Wenn Ihnen jemand dann noch Probleme macht, drohen Sie ihm mit der Presse. Nichts fürchtet ein Beamter
mehr als die Presse. Verstehen Sie?«
»Aber ich weiß doch nichts von der Insel.«
»Das tut nichts zur Sache. Sie brauchen nur vorzugeben, etwas zu wissen und dieses Wissen zu enthüllen, wenn der Minister nicht garantiert, dass der kleine alte Mann umgehend auf freien Fuß gesetzt wird und die Erlaubnis erhält, in Südnorden zu bleiben, solange er Lust oder Laune hat.«
»Und wenn das nichts bringt?«
»Glauben Sie uns, es wird etwas bringen.«
Sigbrit Holland biss sich auf die Unterlippe. Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, im Justizministerium anzurufen. Sie schielte zu der Uhr an der Wand und sprang auf. Es war bereits zwei, sie würde zu spät in die Bank kommen. Ein Schatten bewegte sich ganz hinten im Steuerhaus, und ein schwacher Husten war zu hören. Bei der spärlichen Beleuchtung konnte Sigbrit Holland niemanden sehen, aber es war bestimmt jemand da.
»Wenn ich gewusst hätte, dass wir nicht alleine sind…«, begann sie.
»Kein Grund zur Beunruhigung.« Der Fischer Ambrosius machte eine Handbewegung in Richtung des Schattens in der Ecke. »Der Fremdling. Er hat keine Stimme.«
Sigbrit Holland hätte gerne etwas gesagt, ihr Mitgefühl ausgedrückt oder sich vorgestellt, aber die Stimmung war nicht danach. Stattdessen dankte sie dem Fischer für die Informationen und versprach, ihn wissen zu lassen, wenn etwas Neues passierte. Dann verließ sie das Steuerhaus, kletterte auf den Kai und lief den ganzen Weg zurück zur Bank.
»We shall overcome. We shall overcome … «, brüllten die Massen.
»Alles okay, du kannst jetzt rauskommen. Sie singen nur«, rief Gunnar der Kopf vom Fenster her und winkte Odin zu. Aber der kleine alte Mann rührte sich nicht.
Es hatte am frühen Morgen begonnen. Sie waren angeschlendert gekommen, einer nach dem anderen, in kleinen Gruppen von zwei, drei oder vier Leuten, und nach und nach waren sie zu einer beträchtlichen Gemeinde von gut und gerne ein paar hundert
Menschen angewachsen. Anfangs, als es noch dunkel war, waren sie mit Stearinkerzen und Fackeln gekommen, später kamen sie mit Fahnen, auf denen Parolen standen, und mit Schirmen, um den Schneeregen zu bekämpfen. Sie versammelten sich auf dem Parkplatz vor der geschlossenen Abteilung und sangen Psalmen und riefen den lieben Gott an, und einige der Frauen ließen Kaffee und Kuchen herumgehen. Anfangs sah man keine Anführer, und wären die Sprüche auf den Fahnen, das häufige Skandieren von Schlagworten und das furchtbare Wetter nicht gewesen, hätte die Demonstration leicht mit einem Betriebsausflug verwechselt werden können. Hin und wieder traute sich der eine oder andere vor und rief einen Satz oder zwei, nur um sich direkt wieder in die Sicherheit der Menge zurückzuziehen. Aber mitten am Vormittag bahnte sich ein junger bebrillter Mann mit einem leeren Bierkasten in der Hand entschlossen einen Weg durch die Demonstranten. Der bebrillte Mann drehte den Bierkasten um und stellte sich mit feierlicher Langsamkeit darauf. Er sah sich um, aber nur wenige
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