Odins Insel
Grunde genommen, können wir nicht viel erzählen.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und senkte die Stimme. »Wie gesagt, es gibt die Insel, und es gibt sie nicht. Sie liegt in der Mitte der Meerenge genau zwischen Südnorden und Nordnorden. Aber in den Köpfen der Menschen und in den offiziellen Aufzeichnungen gibt es sie nicht.«
Sigbrit Holland verstand weniger als je zuvor und begann zu bedauern, dass sie gekommen war. Der Fischer schien noch verwirrter zu sein, als die Ärzte es von Odin annahmen. Kaum zu glauben, dass sie ihn beinahe ernst genommen hätte.
»An der Stelle, von der wir sprechen, gibt es mehrere große Klippen.« Der Fischer Ambrosius bemerkte Sigbrit Hollands skeptischen Gesichtsausdruck und fuhr böse fort: »Alle Seeleute kennen sie, sie sind sogar auf den Navigationskarten eingezeichnet. Ja, es ist wohl so, dass niemand, der in der Meerenge segelt, umhinkommt, sie zu sehen.«
Sigbrit Holland senkte den Blick.
»Die Klippenformationen erheben sich aus dem Meer, scharf und verräterisch. Es ist reiner Selbstmord, in ihre Nähe zu kommen. « Der Fischer Ambrosius zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: »Wenn man in der Meerenge segelt, segelt man entweder westlich oder östlich um die Klippen herum, und man sieht immer genau die gleiche Klippenreihe. Eine Klippe nach der anderen, alle gleich. Oder besser, das ist es, was man zu sehen glaubt.« Wieder zögerte der Fischer. »Das, was man in Wirklichkeit sieht, sind zwei verschiedene Reihen, eine Ellipse symmetrischer Formationen.« Er sah Sigbrit Holland direkt in die Augen.
»Und dazwischen liegt die Insel?«, riet sie.
»Dazwischen liegt die Insel, ja.«
Einige Sekunden war es still im Steuerhaus, dann fragte Sigbrit Holland: »Aber warum ist das so ein Geheimnis?«
Der Fischer Ambrosius stand auf und ging zum Fenster. Er sah eine Zeit lang hinaus, dann zog er die Gardine vor und wandte
sich wieder seinem Gast zu.
»Wir wissen es nicht«, sagte er. »Wir wissen es wirklich nicht. Wir haben viele Jahre darüber nachgedacht, und wir wissen es immer noch nicht.«
»Und die Flugzeuge?«, fragte Sigbrit Holland. »Auch wenn keine Boote in die Nähe der Insel kommen können, muss man sie doch aus der Luft sehen können?«
Der Fischer sah sie an, als wüsste er nicht, ob er mit Ja oder Nein antworten sollte. Schließlich sagte er mit gedämpfter Stimme: »Über den Klippen liegt ein grau-gelber Schleier. Und zwar immer, ob die Sonne scheint oder ob es in Strömen gießt. Und Flugzeuge fliegen dort nicht. Sie fliegen nicht über die Insel, und sie fliegen nicht in ihre Nähe.«
»Aber warum nicht?«
»Wir wissen es nicht«, seufzte der Fischer. »Sie tun es einfach nicht.« Er stützte die Hände auf den abgenutzten Mahagonitisch und beugte sich vor, bis Sigbrit Holland seinen warmen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte. »Erwähne die Insel, und die Hölle bricht los«, flüsterte er, richtete sich auf und fuhr dann mit normaler Stimme fort: »Das ist es, was die Seeleute sagen. Einige meinen, die Insel sei der Herd des Teufels. Erwähnt man sie, erwacht der Teufel, und Krieg und Unglück folgen. Andere meinen, die Insel sei das Paradies, das jedoch verschwindet, wenn man davon spricht.«
»Und daran glauben Sie?«
»Nun ja, was wissen wir schon? Wir sind nur ein unwissender Fischer, und all das sind Ammenmärchen, die die Seeleute am Abend spinnen, wenn sie weit von zu Hause fort und keine Frauen in der Nähe sind.« Die Augen des Fischers Ambrosius funkelten schelmisch. »Das Einzige, das wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die Insel nicht erwähnt werden darf, und das reicht uns eigentlich.«
Sigbrit Holland trank den Rest ihres Kaffees.
»Dann glauben Sie also, dass Odin durch die Klippen von der Insel gekommen sein kann?«, fragte sie.
»Das kann sein, muss aber nicht sein. Woher sollen wir das wissen?« Der Fischer Ambrosius glaubte offenbar, schon mehr
als genug gesagt zu haben.
»Aber was hilft mir das, was Sie mir erzählt haben, wenn ich es niemandem erzählen darf, und wenn Sie sowieso nicht glauben, dass Odin von der Insel gekommen sein kann?«
»Zum einen haben wir nicht gesagt, dass der kleine alte Mann nicht von der Insel gekommen ist, sondern nur, dass wir es nicht wissen. Zum anderen haben wir nicht gesagt, dass Sie das niemandem erzählen dürfen, sondern nur, dass vielleicht die Hölle losbricht, wenn Sie es tun, und dass Sie, was immer auch passiert, nicht sagen dürfen, dass Sie es von uns
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