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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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hatten ihn bemerkt.
    »Der Herrgott ist wieder zu uns gekommen!«, schrie der bebrillte Mann mit dramatischer Heftigkeit und blinzelte leidenschaftlich mit den Augen.
    Mehrere Demonstranten drehten die Köpfe und sahen ihn an.
    »Der Jüngste Tag ist nahe. Die, die ohne Glauben sind, sind verängstigt. Aber lasst die Ungläubigen nicht Pilatus’ Untat wiederholen. Lasst die südnordischen Behörden unseren wieder geborenen Christus, den Großen Mann, nicht einsperren und kreuzigen. Wir müssen sie zwingen, Gottes Sohn freizugeben!«
    Der bebrillte Mann hatte gut gesprochen. Seine Worte hatten das Volk bewegt, und ein älterer Herr schwang erregt seine Faust in der Luft.
    »Lasst Christus frei! «, rief er.
    »Befreit den wiedergeborenen Christus!«, stimmte eine gebrechliche Frau im Rollstuhl ein.
    »Gebt uns Odin! Gebt uns Odin! «, schrie der bebrillte Mann und schwenkte empört die Arme über dem Kopf, und bald riefen alle Frommen:
    »Gebt uns Odin! Gebt uns Odin!«

    Das war der Moment, in dem Odin Angst bekam und sich in den Korridor zurückzog, wo er unter einem Tisch Zuflucht suchte. Und ungeachtet dessen, wie viele Krankenschwestern und Ärzte ihm versicherten, dass ihm nichts passieren würde, weigerte sich Odin hervorzukommen. Das einzige Mal, dass er seinen zusammengekauerten Körper bewegte, war, als Gunnar der Kopf jemanden mit Frühstück zu ihm schickte. Nein, Odin traute keinen Menschen, die am helllichten Tag brennende Fackeln trugen und so laut seinen Namen riefen. Wie wahr hatten die Ärzte gesprochen, als sie ihm erzählt hatten, dass die Welt außerhalb der Abteilung ein gefährlicher Ort war, von dem man sich besser fern hielt. Es gab wahrlich gute Gründe, dass die Türen auf den Kontinent hinaus doppelt verschlossen waren.
    Am Nachmittag, zwischen zwei Schneeregenschauern, führte der bebrillte Mann ein paar Fromme in dem Versuch an, in das Krankenhaus einzudringen und den wiedergeborenen Christus zu befreien. Es kam zu einem kleineren Zwischenfall, die Sicherheitsmaßnahmen wurden verschärft und die Frommen zurückgeschlagen. Die Sicherheitsbeamten hatten ihre Übermacht demonstriert, und weder der bebrillte Mann noch jemand anderer wagte sich noch einmal vor. Gegen Abend gingen die meisten der Frommen nach Hause – kalt, müde und hungrig. Nur ein kleiner Kern der Allerfrommsten verharrte auf dem Parkplatz, um zu verhindern, dass der Sohn des Herrn im Schutz der Nacht in ein anderes Krankenhaus überführt wurde.
     
    An diesem Abend zeigten die Nachrichten Bilder der Frommen, die beteten, ihre Fahnen schwangen und mit den Sicherheitsbeamten kämpften.
    »Die Demonstranten, die sich die Wiederauferstandenen Christen nennen«, die Kamera holte den bebrillten Mann, der die anderen Frommen von seinem leeren Bierkasten aus anfeuerte, näher heran, »behaupten, dass ein älterer Mann, der im Zentralkrankenhaus liegt, der wiedergeborene Jesus ist. Die so genannten Wiederauferstandenen Christen glauben, dass der alte Mann gekommen ist, um den nahe bevorstehenden Jüngsten Tag und das darauf folgende tausendjährige Reich des Friedens
auf der Erde anzukündigen, und verlangen, dass er umgehend aus dem Krankenhaus entlassen wird.« Der Nachrichtensprecher konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Die ärztlichen Experten sind der Meinung, dass der ältere Herr, Herr Odin Odin, ernsthaft krank ist. Er soll an umfassenden Zwangsvorstellungen leiden und befindet sich im Krankenhaus seit…«
    Fridtjof stellte den Fernseher aus.
    »Was hast du nur für einen Wirbel verursacht!«, sagte er und schob ärgerlich die Teller auf dem Tisch zur Seite.
    Sigbrit Holland zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Ihr rechter Mundwinkel kräuselte sich zu einem kleinen Lächeln. Es bestand kein Grund mehr, im Justizministerium anzurufen.
     
    Die Nachrichten waren vorbei, und in einer Wohnung mitten in Fredenshvile – nicht weit entfernt von dem Krankenhaus, in dem Odin endlich aus seinem Versteck aufgetaucht war – stellte der junge Jurastudent Esra den Fernseher aus und ging ins Esszimmer, wo seine Eltern seinem kleinen Bruder zuhörten, der einen Vers aus der Thora vortrug.
    Es war der Abend vor dem Sabbat, und die Mutter hatte bereits die Kerzen angezündet und das Brot auf den Tisch gestellt. Hesekiels dunkelblonde Seitenlocken waren lang und feminin und verirrten sich oft in den heiligen Text, doch Hesekiel schob sie einfach geduldig zur Seite, ohne auch nur ein einziges Mal das Vorlesen des

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