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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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heiligen Textes zu unterbrechen, den er wie vorgeschrieben ablas, obwohl er ihn auswendig kannte. Ja, Hesekiel war ein guter Jude und die Freude und der Stolz seiner Eltern. Esra hingegen hatte nie richtig die Thora und die übrigen heiligen Texte studiert, und in den Gebeten und sakralen Ritualen der Tage und Wochen war er auch nicht sonderlich bewandert.
    Hesekiel drehte andächtig eine Seite um und unterbrach den Rhythmus seines Vorlesens nur, um Atem zu holen. Wie Esra ihn hasste! Nein, sie sollten nur warten, dann würden sie sehen, was er, Esra, eines Tages in dieser Welt vollbringen würde, während Hesekiel sich als das Nichts erweisen würde, das er war!
    Mit einem tiefen Seufzer beendete Hesekiel seine gottesfürchtige
Rezitation und schloss vorsichtig das Buch in seinen Händen. Esra betrachtete den frommen Ausdruck auf seinem verabscheuungswürdigen Gesicht – ein kleiner Bruder, dessen leere Augen und mangelnde Begabungen mit göttlicher Nähe verwechselt wurden –, und seine Gedanken wanderten zu den Neuigkeiten, die er gerade gesehen hatte; er hatte eine Idee.

III Ymer & Audhumla
    Vier Milchströme zum Riesen Ymer flossen
seine Schwester ward die Kuh Audhumla
     
    Mit sattem Bauch der böse Ymer schlummerte
der salzige Schweiß der Achselhöhlen nun wachsen ließ
Rimtursers Sohn und Tochter
Während aus den Beinen hervorging
Trudgelmer, der sechshäuptige Riese
Er ward der Vater dessen
der allein war der Vater aller Riesen
– doch böse ist der junge Bergelmir
kein Gutes er leben lassen will
     
    Hungrig Audhumla leckte an dem Eis
geboren ward der Buri Gott
einen Sohn bekam er: den guten braven Börs
sofort griffen Riesen beide an
     
    Ach, hier beginnt der endlose Streit der Welt

    D ie Berichterstattung über Odins Geschichte in den Nachrichten hatte ein sofortiges Ergebnis: Die Anzahl der Demonstranten vor dem Zentralkrankenhaus nahm um mehr als das Dreifache zu. Ja, im Laufe des Samstags wuchs die Zahl der Demonstranten derart, dass auf dem Parkplatz kein Platz für Autos mehr war und die Polizei sich genötigt sah, einzuschreiten, um die chaotische Situation auf der Straße unter Kontrolle zu bringen und sicherzustellen, dass das Personal in die Krankenhausgebäude hinein- und wieder hinauskam. Zum Nachmittag hin erwogen die Ärzte, Odin in ein Krankenhaus in der Provinz zu überführen, doch die Idee wurde wieder verworfen, da das Risiko eines Angriffs auf die Ambulanz – der die Sache zu einer Titelblattstory machen würde – zu groß war. Odin blieb, wo er war.
    Das war vielleicht ein Fehler. Am Sonntagmorgen erwachte Fredenshvile zu einem schweren andauernden Regen. Schwarzgraue Wolken umhüllten die Stadt, sodass das Tageslicht, selbst als die Nacht sich gegen halb neun zurückzog, nicht richtig durchbrach. Alles war nass, die Straßen, die Häuser, die Bäume, die Menschen. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochdruck, und doch konnten die Autofahrer den Asphalt nur schwer durch die Windschutzscheibe erahnen, die Radfahrer waren nach wenigen Minuten im Sattel durchweicht, und lebhafte Bäche rannen am Bordstein entlang in größere und größere Seen über den Abwasserkanälen, die dem Ansturm nicht standhalten konnten. Es war einer der Tage, an denen Katzen und Mäuse drinnen bleiben. Doch nicht die Frommen. Zwar hielten sich einige wenige fern, doch wurden sie von vielen begeisterten Neuhinzukömmlingen
ersetzt. Hunderte über hunderte versammelten sich vor dem Krankenhaus in Regensachen und Gummistiefeln in allen Farben. Manche brachten die übliche Ausrüstung mit; Lichter und Fackeln gingen aus, aber die Fahnen flatterten trotzig im Regen. Spät am Morgen, als die Menge so groß geworden war, dass sie fast den Parkplatz sprengte, kletterte der bebrillte junge Mann auf seinen leeren Bierkasten. Er hob die Hand, und eine gewisse Ruhe legte sich auf die Versammlung.
    »Der Jahrtausendwechsel steht bevor«, rief er den nassen Gläubigen zu. »Gott prüft uns! Gott prüft vor dem Jüngsten Tag unseren Glauben! Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen, nicht aufgeben. Lasst den Regen auf eure bloßen Köpfe fallen. Lasst die Ahle des Allmächtigen in eure bloßen Seelen schlagen! « Der bebrillte Mann riss seinen Regenmantel herunter und warf ihn mit dramatischer Geste in die Pfütze rechts neben dem Bierkasten.
    Ein gottesfürchtiges Murmeln stieg aus der Menge auf.
    »Zeigt dem Herrn, dass ihr nicht wankt!« Der bebrillte Mann stieß verachtungsvoll nach einem Regenschirm, den eine

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