Odo und Lupus 01 - Demetrias Rache
ein: ‚Wach auf! Lass uns fliehen! Es ist alles bereit. Die Pferde sind gesattelt, das Gepäck ist vorbereitet, mehrere Beutel mit Gold und Juwelen. Wir gehen über den Rhein und dann nach Toul und über Lyon nach Périgueux. Dort in der Gegend lebt ein Bruder meines Vaters, er ist ein reicher Laienabt und wird uns Unterkunft gewähren. Mit dem Gold sind wir aber unabhängig. Wenn du willst‘, fuhr sie fort, ‚begleite ich dich auf deinen Reisen, wie Adalmar, meinen geliebten Mann, dem du so ähnlich bist. Wir müssen nur erst einmal weg von hier, diesem schrecklichen Ort, wo ich so lange gelitten habe. Ich verzeihe dir alles, verzeih auch du mir! Ich wollte, dass sie dich verurteilten und dass du deine Schuld hier abbüßen müsstest. Später wollte ich mit dir fliehen. Doch nun hat sich alles geändert. Sie verdächtigen mich, wir können nicht warten. Wenn wir nicht zögern, wird alles gut. Wir werden uns lieben und ich will dir dienen und deiner Stimme lauschen. Steh auf und komm!‘ So sprach sie. Haltet Ihr das für möglich? Während sie hastig und leidenschaftlich flüsterte, befreite sie meinem Fuß vom Eisen. Sie wollte mir beim Aufstehen helfen, doch in meiner Schwäche sank ich zweimal zurück auf das Stroh. Plötzlich war sie über mir und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Sie flüsterte mir zärtliche Worte zu und geriet vollkommen außer sich. Sie …“
„Wir wollen die Einzelheiten nicht wissen!“, unterbrach ich ihn.
„Verzeiht! Es war ein Alptraum. Ihr seht mich noch immer empört. Zum Glück gewann ich meine Kräfte zurück. Es gelang mir, mich loszumachen und aufzustehen. Dann gab ich dem Weib einen Stoß, eilte die Stufen zur Tür hinauf und entkam.“
„Und habt Ihr die Tür hinter Euch verschlossen oder verriegelt?“
„Nein. Ich sah die beiden Pferde bereitstehen, schwang mich auf das meinige, ergriff das andere am Zügel und ritt zum Tor. Obwohl es doch tiefe Nacht war, säumten viele Leute vom Salhof meinen Weg. Ich sah sogar, dass einige auf dem Boden knieten, was immer das zu bedeuten hatte. Man öffnete mir das Tor bereitwillig. Ich wollte nur erst meinen Knaben holen, den Aimo, von dem ich erfahren hatte, dass er in einer Schänke untergebracht war. Danach wollte ich aber gleich zu Euch und Herrn Odo, meinen Beschützern. Glaubt mir um Gottes Willen, dass ich nicht fliehen wollte!“
Das glaubte ich ihm ganz und gar nicht, doch die Geschichte, die er erzählt hatte, mochte wahr sein. Ich übergab ihn wieder den Leuten des Grafen zur Bewachung, befahl dreien von ihnen, mir zu folgen und trat so an der Spitze eines sechsköpfigen, mit Schwertern und Lanzen bewaffneten Trupps vor das Tor. Es war verschlossen, doch öffnete es sich auf mein Begehren.
Wir begaben uns zum Saalhaus, das, wie erwartet, von zahlreichem Volk umlagert war. Die Leute empfingen uns stumm, mit ebenso feindseligen wie furchtsamen Blicken. Die meisten waren wohl Knechte und Mägde, aber auch die knorrigen Verwandten standen aufgereiht an der Wand und starrten uns böse entgegen.
Wir traten an die nicht ganz mannshohe, aus dicken Eichenbrettern gefügte Tür, die ins Untergeschoss führte. Sie war verschlossen. Ich forderte den Schlüssel. Niemand wollte ihn haben.
Kaum hatte ich meine Stimme erhoben, meldete sich von drinnen auch schon die Zentgräfin.
„Helft mir! Seid barmherzig, lasst mich hinaus! Sie wollen mich umbringen! Befreit mich um Christi willen!“
„Habt Geduld!“, rief ich und sah mich um. Ich entdeckte Arnfried, den alten Onkel der toten Brüder, der mir hier immer als der Vernünftigste und Rechtschaffenste erschienen war.
„Was ist vorgefallen?“
„Woher soll ich das wissen?“ Die müden Augen des alten Uhus zwinkerten heftig. „Sie ist dort hineingegangen und irgendjemand hat sie dann eingesperrt. Aber wer es gewesen ist …“
Ich hatte natürlich längst begriffen, dass die dumme, gotteslästerliche Geschichte, die Rouhfaz der Magd erzählt hatte und die rasch von Mund zu Mund gegangen war, in den Schädeln dieser einfachen Menschen beträchtliche Verwirrung gestiftet hatte. Die Ermordung der jungen Frau, die Rückkehr des Zentgrafen, ihres Vaters, beider Erscheinen als „lebende“ Tote, die außerordentliche Gerichtsversammlung, die Totenklage mit Siegrams ergreifendem Kyrie … das alles war ein undurchdringliches Knäuel. Hier spukte nicht nur Satan, sondern es mochten auch böse Dämonen, Abgesandte der alten, verdrängten, rachedurstigen Götter, bei all dem
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