Odo und Lupus 04 - Die Witwe
zu entschlüsseln. Die vom Himmel gefallenen Bäume, die uns den Weg versperren … das bedeutet nichts weiter als Bäume, die nicht gewachsen sind, wo wir sie vorfinden. Ein deutlicher Hinweis! Wäre die Frau mit denen im Einverständnis, die hier eine Sperre durch Unwetter vortäuschen wollen, hätte sie den wohl unterlassen!“
„Aber auch sie wollte, daß wir verschwinden.“
„Vielleicht wollte sie gerade das Gegenteil!“
„Wie?“
„Hast du nicht vorhin selber gesagt: ‚Um so besser, wenn es etwas zu tun gibt‘? Werden Gerichtsleute fliehen, wenn sie erfahren, daß irgendwo ‚Blutquellen‘ fließen?“
„Da hast du wohl recht, mein scharfsinniger Freund“, sagte Odo und knetete seine Nasenspitze, was bei ihm immer ein Zeichen erhöhter Denkarbeit ist. „Ja, so wird es sein … so und nicht anders. Die schlaue Alte sagt uns ein Sprüchlein auf, das uns lüstern macht. Sie läßt uns etwas von dem Brei schnuppern, den man hier anrichtet. Sie weckt unseren Appetit, weil sie weiß, daß die Köche uns nicht bei Tisch haben wollen. Sie rät zum Verzicht und meint: Langt zu! Nun, sie soll sich in uns nicht getäuscht haben. Noch nie ließ man Odo von Reims vor der Tür stehen, wenn er sich irgendwo zu Gast lud. Seid also unverzagt, Männer, wir finden den Eingang! Allerdings wird das Mahl, das uns dann erwartet, wohl nicht sehr schmackhaft sein. Laßt uns deshalb erst einmal das Rebhuhn und die beiden Hasen verzehren, die wir heute erlegt haben!“
Wie so oft hatte Odo die richtigen Worte gefunden. Schon hatten sich Grimm und Verzagtheit unter uns breitgemacht. Der Leib, wenn auch dem Geiste Untertan, ist ein übler Rebell, dem es nur allzu oft und zu leicht gelingt, sich zum Herrn aufzuwerfen. Die Aussicht, uns die Bäuche zu füllen und die Glieder zur Ruhe auszustrecken, belebte uns auf das wunderbarste und hob die Stimmung bis zur Fröhlichkeit. Alle wurden geschäftig, pfiffen und sangen. Da uns nichts anderes übrigblieb, als hier unser Nachtlager zu errichten, war bald in der Nähe ein geeigneter Platz ausgemacht, ein hübsches Fleckchen neben einem Rinnsal von Bach, am Fuße eines hochragenden Felsens. Odo und Heiko entrollten die Zeltbahn, Rouhfaz und zwei Männer des Wachtrupps, die wir unsere Recken nennen, machten sich an das Rupfen und Enthäuten der Jagdbeute, Fulk und ich trugen Steine für die Kochstelle zusammen. Und schon kramte Fulk, unser Feuermeister, aus seinen Taschen das Säckchen mit Zunder, den Feuerstein und den Nagel hervor, die drei magischen Gegenstände, mit deren Hilfe er, kaum daß man derweil auch nur dreimal Luft holen konnte, eine kräftige züngelnde Flamme entfachte. Ich hockte daneben und warf trockene Späne hinein. Das Feuer prasselte auf – und erlosch.
Ein Birkhahn, von einem Pfeil durchbohrt, war wie ein Stein vom Himmel gefallen.
Im selben Augenblick hörten wir über uns ein Gelächter. Hoch oben auf dem Felsen stand breitbeinig, noch den Bogen im Anschlag, der Jäger und blickte lachend auf uns herab.
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V or Schreck und weil mich ein glühender Span ins Auge getroffen hatte, setzte ich mich ins Gras. Die meisten von uns sprangen auf. Alle starrten nach oben.
„Kein schlechter Schuß, wie?“ rief der Jäger. „Der Hahn gehört euch! Aber das ist kein guter Platz für ein Nachtlager!“
„Wißt Ihr denn einen besseren?“ rief Odo hinauf.
„Ich weiß einen!“ war die Antwort. „Vorausgesetzt, daß ihr ehrliche Leute seid!“
Der Mann trat vom Rande des Felsens zurück und verschwand. Odos Beispiel folgend, ergriffen gleich alle ihre Waffen, die sie vorher – der Bequemlichkeit halber und um bei der Arbeit nicht behindert zu werden – abgelegt hatten. Auch ich sprang auf die Beine und nahm ein Messer, das ich zwischen den Falten der Kutte verbarg. Es konnte ja sein, daß der Mann nicht allein war und daß im nächsten Augenblick eine Bande hinter dem Felsen hervorbrach.
Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet. Der Jäger erschien in unserer Mitte nur in Gesellschaft eines struppigen Hundes, der sich gleich auf den Birkhahn stürzte und diesen ohne Rücksicht darauf, daß er uns gerade geschenkt worden war, von unserer Feuerstelle riß und seinem Herrn zu Füßen legte. Der Mann war wohl an die vierzig Jahre alt, stark, gerade gewachsen und wohlgenährt. Er gehörte also zum Herrenstand, denn die gewöhnlichen Leute in diesem kargen Gebirge sind in der Regel magere, schwächliche, krumme Gestalten. Auf einem breiten Nacken
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