Odo und Lupus 05 - Pilger und Mörder
auch nur einen einzigen Tag in seinem Leben gefastet?“ Er stieß ein kurzes bitteres Lachen aus. „Für seine Buße hatte er immer Stellvertreter. In letzter Zeit war meistens ich es.“
„Da hattet Ihr Euch eine schwere Last aufgeladen.“
„Unser Herr Jesus büßte für die Sünden der ganzen Menschheit!“ sagte er mit einem frommen Blick auf das goldene Kreuz des Hauptaltars. „Warum soll ich, sein bescheidener Priester, nicht für die Vergehen meiner Nächsten büßen?“
„Sind es denn mehrere, deren Bußen Ihr übernehmt?“
„Die größten Sünder im Comitat! Der Comes, zwei Äbte und andere bedeutende Herren. Sie alle kommen nach der Beichte zu mir.“
„So sündigen sie, ohne jemals Buße zu tun?“ fragte ich mit dem Ausdruck empörter Einfalt, obwohl mir natürlich bekannt war, daß die Beichtordnung und die Bußbücher solche Tauschgeschäfte erlauben.
„Was heißt, ohne jemals Buße zu tun?“ erwiderte er. „Ich tue es ja an ihrer Stelle.“
„Da müßt Ihr wahrhaftig sehr beschäftigt sein!“
„Das bin ich, Bruder Lupus, das bin ich! Manchmal komme ich wochenlang kaum aus der Kirche heraus. Tue nichts außer Messen lesen und Psalmen singen, mit und ohne Kniebeugen. Alles streng nach Vorschrift der Bußbücher. Für einen Tag Fastenbuße sind siebzig Psalmen oder fünfzig mit Kniebeugen abzuleisten, für eine Woche vierhundertzwanzig oder dreihundert mit Kniebeugen. Für die fünf Wochen des Pappolus also nicht mehr und nicht weniger als zweitausendeinhundert Psalmen oder eintausendfünfhundert mit Kniebeugen. Ich entschied mich, wie meistens, für das letztere. Es ist zwar anstrengend, und man spürt hinterher seine Knochen, doch es geht schneller. In diesem Fall leider nicht schnell genug. Ich war gerade bei sechshundert Psalmen angekommen, als es passierte. Jetzt bin ich bei neunhundertfünfzig. Es fehlen also immer noch fünfhundertfünfzig.“
„Glaubt Ihr denn nicht, daß ihm der himmlische Vater in seiner Gnade den Rest der Buße erlassen wird?“
„Gewiß nicht!“ sagte Sallustus mit Überzeugung. „Dafür wiegen seine Sünden zu schwer. Mindestens blüht ihm das Fegefeuer. Es kann aber auch noch schlimmer kommen! Nun, ich will tun, was ich kann, um es abzuwenden. Außerdem will ich ihn nicht betrügen. Schließlich hat er die tausendfünfhundert Psalmen im voraus bezahlt.“
„So habt Ihr immerhin eine gewisse Entschädigung für Eure Mühe.“
„Reichtümer sind damit nicht zu gewinnen. Ich halte mich auch in diesem Punkt streng an die Vorschriften. Zwei Meßfeiern oder hundert Psalmen – das macht einen Solidus; sechs Messen oder sechs Psalter – zehn Solidi; zwölf Messen oder zwölf Psalter – zwanzig Solidi. Mit entsprechendem Aufpreis für die Kniebeugen. Ich verwende das Geld, um die Armen zu speisen und die Witwen und Waisen zu unterstützen.“
„Ihr seid ein Heiliger!“ rief ich aus.
Der kleine Priester lächelte geschmeichelt und machte eine bescheidene Abwehrbewegung. Er mochte an die vierzig Jahre alt sein, etwas älter als ich. Aus seiner Verachtung für Reinlichkeit machte er keinen Hehl, seine Stola und sein Hals waren schmutzig, und da er viel Schweiß vergossen hatte, stank er wie ein Ziegenbock. Auch sein Atem, der aus einem Munde voll schwarzer Zähne kam, war kaum weniger rein als ein Eselswind. Es nützte aber nichts, auf der Bank von ihm wegzurücken, weil er immer gleich wieder aufschloß.
Der bisherige Verlauf unseres Gesprächs schien ihn zu befriedigen, und ich hatte den Eindruck, daß er es nun dorthin lenkte, wohin er es haben wollte.
„Wenn es nur immer nach Verdienst ginge, Bruder Lupus!“ sagte er seufzend. „Heute nehme ich hier das Bischofsamt wahr, damit hat mich der Comes bis zur Ernennung des neuen Bischofs beauftragt. Aber wenn es zur Wahl kommt, werde ich wieder das Nachsehen haben. Auch beim letzten Mal hat man mich schon übergangen.“
„Man überging Euch zugunsten des Pappolus?“
„Das war eine üble Geschichte, und ich fürchte, sie wird sich jetzt wiederholen. Man wird auch diesmal einen Unwürdigen ernennen!“
„Der selige Bischof war, wie es scheint, nicht gerade ein Freund des frommen Wandels. Fünf Wochen Fastenbuße ist ja sehr viel. Was hatte er eigentlich getan?“
„Was er getan hatte? Warum soll ich es dir nicht sagen? Du wirst es ja doch in jeder Schenke erfahren. Es war immer dasselbe: Unzucht und Völlerei. Im Grund hätte er sogar mehr als fünf Wochen Fasten verdient gehabt.
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