Odo und Lupus 05 - Pilger und Mörder
aus: „Neunhundertvierunddreißig!“
„Neunhundertfünfunddreißig!“ Dann fuhr er fort mit dem Auf und Ab und dem Psalmodieren. Er war mit Hingabe bei dieser kräftezehrenden Übung, allerdings schon sichtlich ermattet. Sein Karottenkopf war vor Anstrengung dunkelrot. Manchmal, wenn er sich ächzend erhob, schwankte er und mußte sich am Altar festhalten.
Ich hätte gern das Wort an den kleinen Priester gerichtet, doch wagte ich nicht, ihn zu stören. Bei der Gerichtsversammlung hatte er ja Proben seines heftigen Wesens gegeben, und ich fürchtete daher, er könne es übelnehmen, wenn sich ein Dritter in sein Zwiegespräch mit dem Herrn mischte. Allerdings mußte ihn die sportliche Mühsal, der er sich dabei zusätzlich unterzog, bald erschöpfen, und so beschloß ich zu warten. Trotz aller frommen Inbrunst hatte er natürlich auch mich bemerkt, und ab und zu äugte er neugierig und mißtrauisch zu mir herüber. Ich fragte mich, ob er wußte, daß Königsboten eingetroffen waren und unter dem Dach, wo er selber wohnte, Quartier bezogen hatten. In dem ihm anvertrauten Hause hatte er sich ja nach unserer Ankunft nicht blicken lassen. Auch in der Gesellschaft, die nach der Urteilsverkündung bei Magnulf versammelt war, hatten wir ihn nicht entdecken können. Sollte er die ganze Zeit hier in der Kirche mit Gebeten und Kniebeugen verbracht haben? Welchen Grund hatte er, so ausdauernd Buße zu tun?
Ich hörte ihn „Neunhundertfünfzig!“ rufen, und diesmal stützte er sich lange auf den Altar, wobei er wie ein altes Roß schnaufte. Die Gelegenheit schien mir günstig. Ich trat zu ihm und fragte in ehrerbietigem Ton, ob er Hilfe benötige. Er verneinte, doch als ich mich wieder abwenden wollte, hielt er mich auf.
„Wie heißt du, Bruder?“ fragte er, wobei er mich mit seinen grauen Augen durchdringend ansah.
„Mein Name ist Lupus.“
„Ich habe dich hier noch nie gesehen. Du bist fremd hier? Wohin des Weges?“
„Ich folge meiner Bestimmung im Dienste eines Höheren“, sagte ich wahrheitsgemäß, wenn auch vieldeutig. „Der Herr lenkt meine Schritte.“
Er mißverstand diese Antwort, doch schien sie ihm zu gefallen.
„Du bist auf Wanderschaft? Angelsachse?“
„Ostfranke.“
„Herkunft?“
„Von Adel.“
„Gibt es ein Kloster, wo du länger gelebt hast?“
„Fulda. Dort war ich neun Jahre.“
„Hast du eine Ausbildung genossen? Kannst du Griechisch? Latein?“
„In Wort und Schrift.“
Er stellte noch ein paar Fragen. Dabei starrte er mich immerfort an, aber leicht abwesend, so als denke er über irgend etwas nach.
„Du hast kein bestimmtes Reiseziel?“ fragte er dann.
„Mein Ziel ist für heute erreicht. Ein Ort, wo gute Christen leben. Wenn es dem Herrn gefällt, mir einen neuen Tag zu schenken, wird er mir eine neue Richtung weisen.“
Auch diesmal befriedigte ihn die unklare, treuherzig vorgebrachte Auskunft. Er sah in mir einen einfachen Wandermönch, und aus irgendeinem Grunde schien ich ihn gerade deshalb zu interessieren. Ich hielt es also zunächst für zweckmäßig, ihn davon nicht abzubringen.
„Setzen wir uns doch!“ schlug er vor. „Ich bin Sallustus, der Vertreter des Bischofs.“
Er ergriff meinen Arm und führte mich zu einer der Chorbänke, wo wir uns niederließen. Allmählich beruhigte sich sein Atem. Mit dem weiten Ärmel seines Gewands fuhr er sich über die Stirn, um den Schweiß abzuwischen.
„Ihr schont Euch nicht im Dienste des Herrn“, sagte ich in respektvollem Ton.
„Was bleibt mir übrig?“ erwiderte er. „Die Zeit drängt. Ich erfülle die letzte Bußpflicht für einen, der schon vor seinem Thron steht.“
Er seufzte und richtete seine Augen himmelwärts.
„Sprecht Ihr vielleicht vom Bischof Pappolus? Ich war heute Ohrenzeuge der Gerichtsversammlung.“
„Dann weißt du ja, wie plötzlich er abberufen wurde. Im Zustand der Sünde ging er dahin! Er hatte noch drei Wochen strengen Fastens vor sich, um alles zu tilgen. Die muß ich jetzt für ihn ableisten.“
„Ihr nanntet ihn eine unvergängliche Zierde der Christenheit.“
„Nun, das gehörte sich vor der Versammlung. Er war ein Sünder wie wir alle, leider sogar ein besonders hartnäckiger und immer wieder rückfälliger. Ursprünglich waren es sogar fünf Wochen Fasten, die ihm auferlegt wurden. Ich hatte sie noch nicht abgebüßt, als es geschah.“
„Ihr büßtet für ihn von Anfang an?“
„So war es, mein guter Bruder. Oder glaubst du vielleicht, Bischof Pappolus hätte
Weitere Kostenlose Bücher