Odo und Lupus 05 - Pilger und Mörder
den Weg liefen und erzählte auch ihnen meine Geschichte vom sterbenden Vater, doch brachte ich nichts aus ihnen heraus. Dies bestätigte mir, daß Weisung ergangen war, mir keine Auskunft zu geben, und inzwischen war wohl kaum noch einer der von mir Befragten im Zweifel darüber, wer ich war. Ich hatte mich schon damit abgefunden, mit der Last eines nur halb enthüllten und deshalb um so bedrückenderen Geheimnisses das Kloster verlassen zu müssen, als eine zufällige Begegnung alles änderte.
Ich ging in den Stall, um nach meinem Grisel zu sehen, der in den letzten Tagen ein wenig lahmte. Ein Mönch war gerade beim Füttern der Tiere. Mehrere Male mußte ich hingucken, und auch er spähte unsicher zu mir herüber. Dann aber riefen wir beinahe gleichzeitig unsere Namen.
„Lupus!“
„Medardus!“
Wir umarmten uns. Ich kannte Bruder Medardus aus Fulda, wo wir vor knapp einem Jahrzehnt noch gemeinsam im Scriptorium gesessen und Abschriften bedeutender Werke angefertigt hatten, ich juristischer, er poetischer. Dann hatte er das Unglück gehabt, sich die rechte Hand zu brechen, so daß er mit dem Schreiben aufhören mußte. Er wurde in die Küche befohlen, und eines Tages ging er fort, weil ein neugegründetes Kloster regelfeste, erfahrene Mönche brauchte. Inzwischen hatte er nochmals den Aufenthalt gewechselt und war hierher gekommen, ins Kloster des heiligen Dionysius, wo er nun schon seit Jahren das bescheidene, aber wichtige Amt des Cellerars {20} versah. Er war stark gealtert und etwas krumm geworden, sein Haar war grau, obwohl er nicht älter als ich selber sein konnte, das heißt also keine vierzig Jahre. Noch immer hatte er aber die fröhlichen Augen mit den Spottfalten und die bewegliche Zunge, die ihm bei den Klosterautoritäten oft Ärger bereitet hatte.
„Aber erzähle doch, Lupus, was ist aus dir geworfen? Wie kommst du in unser Kloster? Bist du auf der Durchreise?“
„Ein Auftrag führt mich in diese Gegend.“
„So bist du der, vor dem wir uns hüten sollen.“
„Ebender bin ich.“
Wir lachten.
„Nun, ich werde mir nicht verbieten lassen“, sagte Medardus, „mit einem alten Schicksalsgenossen zu plaudern. Wer weiß, ob wir uns im Jenseits wiedersehen. Vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit.“
Er führte mich in ein Kellergewölbe, das angefüllt war mit Säcken voller Mehl und Bohnen und mit anderen Vorräten. Hier hatte er sich hinter Weinfässern eine gemütliche Ecke eingerichtet, wo er ‚die süßen Gaben Gottes ohne den Zusatz von saurem Geschwätz‘ genoß, wie er sagte. Der Selbstgezogene, den er mir einschenkte, war vorzüglich.
Es versteht sich, daß wir erst einmal Erinnerungen austauschten, daß wir von Fulda sprachen, von Brüdern, die wir gekannt hatten, von gemeinsamen Erlebnissen. Natürlich wollte Medardus wissen, wie es mir so ergangen war, und er staunte nicht wenig, als er von meiner Berufung in die Kanzlei des Hofes erfuhr. Es beeindruckte ihn, daß ich es bis zum Königsboten gebracht hatte, doch war er nicht neidisch wie mancher andere, den ich von früher kannte und wiedertraf. Er bedauerte mich sogar ein bißchen, und ich wußte, es war ehrlich gemeint.
„Ein langes Leben wirst du auf diese Weise nicht haben, mein guter Lupus“, sagte er. „Deshalb genieße, was dir bleibt. Was danach kommt, ist ungewiß.“
„Ich ziehe ja schon einige Jahre umher“, erwiderte ich, „und du siehst, ich bin immer noch frisch und munter. Warum soll das nicht noch eine Weile so gehen? Gott der Herr liebt unseren König Karl und schützt seine Getreuen.“
„Gott kann seine Augen nicht überall haben. Irgendwann guckt er nicht hin, und dann passiert es. Ein Straßenräuber prescht aus dem Walde hervor, und schon ist es aus mit dir. Sicherer lebst du hinter Klostermauern. Das heißt …“
Er verzog plötzlich das Gesicht und begann zu lachen.
„Was hast du, Medardus?“ fragte ich. „Wenn es etwas Heiteres gibt, laß mich mitlachen.“
„Nun, ich erzähle dir etwas von Straßenräubern und von Sicherheit hinter Klostermauern, und dabei …“
„Und dabei?“
Ein Lachanfall schüttelte ihn.
„Dabei ist so ein armer Straßenräuber selbst nicht sicher. Nicht einmal hinter Klostermauern!“
„Das mußt du mir näher erläutern.“
„Warte.“ Er beruhigte sich allmählich. „Du sollst die Geschichte hören. Aber sprich bitte nicht darüber, vor allem nicht zu unseren Mönchen. Es würde gleich unserem Alten zugetragen, dem Bertram, und das
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