Ödland - Thriller
nach dem Gefühl. Er blendete sämtliche verfügbaren Scheinwerfer auf und versuchte, durch die Wassermassen zu spähen, die über die Windschutzscheibe stürzten. Mehr als zwei Meter weit konnte er nicht sehen. Laurie schlug ihm vor, stehen zu bleiben und abzuwarten, bis das Wetter sich einigermaßen beruhigte, doch davon wollte Rudy nichts hören. Dickköpfig, mit um das Lenkrad verkrampften Fingern und einem herausfordernden Grinsen auf dem Gesicht, setzte er die Fahrt fort.
»Das Wetter kommt von Westen, aber wir fahren Richtung Süden. Wir sind bald durch.«
Bis jetzt ist er sich nicht darüber im Klaren, wie sie es geschafft haben, mitten im dicksten Sturm ohne Unfall das Autobahnkreuz von Dôle zu meistern. Auf der Fahrbahn lagen abgerissene Schilder, Autos waren gegen die Leitplanken gedrückt worden, umgestürzte Lkws blockierten gleich mehrere Spuren, schlammiges Wasser stürzte die Zubringer hinunter, und der Wind verfing sich unter den Brücken und rüttelte den Mercedes wie ein Spielzeugauto. Obendrein war es stockfinster, denn die Straßenlampen waren entweder umgefallen oder defekt.
Die chaotischen Zustände haben bis Bourg-en-Bresse angedauert, wo nach und nach die Wolken aufrissen, das Tageslicht zurückkehrte und der Regen nachließ; auf der Höhe von Lyon schwächte sich der Wind zu einem starken, jedoch erträglichen Mistral ab. Erst jetzt war Rudy bereit, anzuhalten, durchzuatmen und etwas zu trinken. Er zitterte am ganzen Körper und war totenbleich.
»Aber warum bist du nicht einfach stehen geblieben?«, schrie Laurie ihn an. Die überstandene Aufregung und Rudys Zustand beeindruckten sie nachhaltig. Der Holländer klammerte sich an seinen Becher mit Kaffee-Ersatz wie ein Ertrinkender an eine Holzplanke. »Was wolltest du beweisen? Dass du Mumm in den Knochen hast?«
Langsam schüttelte er den Kopf.
»Den letzten Sturm dieser Art habe ich zu Hause in Holland erlebt. Er hat zehn Tage gedauert, und ich habe alles verloren.«
Dabei blickte er drein wie ein geprügelter Hund. Laurie schluckte ihre Erwiderung hinunter. Es nützte nichts, den Dolch in dieser noch blutenden Wunde herumzudrehen. Er hätte ohnehin genug damit zu tun, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen, denn in Burkina würde sein persönliches Drama niemanden interessieren.
» Only one day is left, only one day. We are leaving the others, we aregoing away«, deklamiert Rudy ernst, während er die vorbeibrausende Landschaft betrachtet. Wieder hat er die Hände im Nacken verschränkt; seine Füße liegen bequem auf der Fußraste. Der Autopilot ist eingeschaltet, und der Lkw führt stumme Zwiegespräche mit der Autobahn, was man daran erkennt, dass kurze Botschaften auf der Windschutzscheibe aufflackern und der Bordcomputer manchmal flüchtig blinkt.
»Was? Was hast du gesagt?«
» Mir ist gerade ein alter Song eingefallen. ›Let them sleep who do not know, the final day is here. The very last, and we leave at dawn.‹«
»Klingt ja ungeheuer optimistisch!«
»Schließlich geht es um das Ende der Welt, um den letzten Tag, um den Abschied - also genaugenommen um den Tod. Ich konnte den ganzen Song mal auswendig, aber ich habe das meiste vergessen. ›There is noforce, no money and no power to stop us now and change our fate.‹ Ich finde ihn stark, und jetzt, mit dem zeitlichen Abstand, sogar geradezu prophetisch.«
»Wer hat ihn gesungen?«
»Laibach, eine slowenische Gruppe, die Ende des zwanzigsten und Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts aktuell war. Warte, ich könnte versuchen, den Song zu finden.«
Er studiert das bordeigene Audiosystem und findet die Funktion, mit der man Musikrecherchen betreiben kann. Tatsächlich wird er fündig. Innerhalb weniger Sekunden zeigt der Bildschirm ein Ergebnis. »Laibach: B-Machina (© Mute 2003/3:47)« Der Song explodiert mit voller Wucht aus allen sechs Lautsprechern der Kabine. Hingerissen hört Rudy zu. Lauries Gesichtsausdruck zeigt gewisse Vorbehalte.
»Ich finde das schrecklich düster«, erklärt sie schließlich. »Wie mit Angst gemischte russische Révolutionslieder.«
»Genau aus diesem Grund habe ich die Gruppe immer geliebt. Sie hat damals schon das vorausgeahnt, was heute längst Wirklichkeit geworden ist: Revolte, Verzweiflung, Kampf ums Überleben.«
»Mir ist das zu abgedreht«, wendet Laurie ein. »Nach so einem Song hat man Lust, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen ... Also, ich würde mir so etwas lieber nicht anhören.«
Sie denkt an die
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